Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg
XV. Leben im Rad
Die zwölf Tage
Zeit ist eine der zwei absoluten Wirklichkeiten unseres Lebens — so sicher wie der Tod. Trotzdem ist sie ungreifbar, und oft scheint ein Tag dem anderen zu gleichen, als ob er nichts Neues, nichts Wesentliches brächte.
Und doch: Zeit ist Qualität; die grundlegendste aller Qualitäten. Der Wunsch, sie als solche zu erfahren, brachte uns schon vor Jahren dazu, den Häuserkreis in zwölf Tagen zu durchschreiten. Die Sehnsucht vielseitiger, wacher, intensiver wahrzunehmen, den Zusammenhang von Sinn und Leben zu spüren, unsere Anlage zum Entwurf der Verwirklichung zu machen, war der Anlass zum Experiment. Wir fanden den geeigneten Zeitpunkt zum Beginnen, machten uns am Vorabend die Intention bewusst, am nächsten Tag abgesehen von den täglichen Verrichtungen mit einer zweiten Aufmerksamkeit wahrzunehmen, inwiefern das Geschehen ein Licht auf uns als Person (I. Haus), in unserem Auftreten, Durchsetzen, unseren persönlichen Neigungen werfen könnte, inwiefern wir auf die Eigenart anderer eingehen, wo wir führend, nachfolgend, bewundernd oder Ärgernis erregend wirken. Manche der Begebenheiten wurden uns zur Information in Bezug auf das Thema und zur Selbsterkenntnis.
Am Abend vor dem zweiten Tag stellten wir uns vor dem Einschlafen auf unsere Beziehung zu den Dingen (II. Haus), zu Besitz und Lebensunterhalt ein, und wieder brachte der Tag bedeutsame Erkenntnisse, die wir sonst übersehen hätten. Wir begannen Tagebuch zu führen, um die Begebenheiten am Ende im Zusammenhang zu übersehen.
In späteren Zeiten fanden wir uns in Gruppen zusammen, und tauschten unsere Erfahrungen gegen Abend aus. Das gemeinsame Feiern der Zwölf Tage ist inzwischen zu einem Ritus geworden, den wir vor der Wintersonnenwende begehen. Es ist ein alter Brauch, der somit in der Wassermannzeit eine neue Form gefunden hat. Die Christen kannten die zwölf heiligen Nächte, die früher ebenfalls auf die Zeit vor der Weihnacht fielen, die am 6. Jänner gefeiert wurde (bis ins vierte Jahrhundert).
Zwischen den zwölf Monden (Mondmonaten) und den zwölf Monaten des Sonnenjahres besteht eine Zeitdifferenz von 11½
Tagen, also von zwölf Nächten, die auch bei anderen Völkern und z. B. beim Kaiser von China zur Einkehr und Besinnung benützt wurden. In der germanischen Überlieferung war es das wilde Heer Odins. In manchen Gegenden verwenden die Bauern die zwölf Tage (jetzt nach Weihnachten), um sich auf den Anbauplan des nächsten Jahres zu besinnen, auf dass die Erde Frucht trage. So wird uns unsere Anlage auch mit der Erkenntnis unserer Schwierigkeiten und Möglichkeiten zum Feld, das wir im nächsten Jahr bestellen.
Am dritten und vierten Tag unserer gemeinsamen Rundfahrt beginnen auch die Träume Auskunft zu geben, und wenn einer einen trüben Tag hat, kann er über die Gefährten am Thema klärend teilnehmen.
Wem der Häuserkreis noch nicht einsichtig ist, der liest am Vorabend den entsprechenden Abschnitt des Kapitels Fragen zum Häuserkreis
nochmals durch. Wenn die Intention kraftvoll ist, spielt das Unbewusste mit.
Die Zwölf Tage spiegeln den Lebenskreis. Oft kommt es zu Einfällen, Einsichten und Entscheidungen, die den Ansatz zu ungeahnter Entfaltung bringen.