Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg
I. Die sieben Prinzipien des Bewusstseins
Seele
Seelisch ist das Spezifische, das Einzigartige an jedem Wesen: dass es eben diese Pflanze und nicht eine andere ist, jener Baum, die gewisse Schwalbe, dieser Mensch. Das Einzigartige am Menschen wird als persönlich, als Person bezeichnet und unter einem Namen zusammengefasst: er erfährt sich als Ich.
Seelisch ist das persönliche Verhältnis zu anderen Menschen, zu Tieren, vielleicht sogar zu Engeln und Göttern. Der seelische Bereich reicht örtlich und zeitlich über den körperlichen hinaus, bezieht Anwesende und Abwesende, Lebende wie Tote ein. Trotzdem ist er begrenzt: eben auf jene, zu denen ein persönliches Verhältnis besteht.
Die Struktur der Seele ist ein Verhältnisgefüge von sechs Leerplätzen für bestimmte Rollen, die verschieden besetzt werden können. Die Rollen sind die des Vaters, der Mutter, des Bruders, der Schwester, des Sohnes und der Tochter.
Alle möglichen seelischen Verhältnisse sind im Wechselspiel dieser sechs einbegriffen; die gleiche Person kann niemals mehr als drei der Rollen besetzen. Eine Frau kann Mutter, Schwester oder Tochter sein; sie kann auch mehrere Rollen dem selben Menschen gegenüber gleichzeitig vertreten.
Wir haben ein bestimmtes Verhältnis zu jenen, die wir fürchten oder achten wie Eltern; zu anderen, denen wir verbunden sind wie Brüdern und Schwestern, und zu solchen, für die wir uns verantwortlich fühlen wie zu Kindern.
Aber wo bildet sich die Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Gatten und Geliebten? Die Person ist weiblich oder männlich und sucht nach ihrer Ergänzung. Man könnte diese Beziehung als ein Übereinanderlegen von zwei Sechsecken veranschaulichen, von denen jeder eine Hälfte ausfüllt. Aber nur wenn beide Erwachsene die Mitte ihres Seelenfeldes besetzen, werden sie einander frei sechsfältig ergänzen. Wenn eines der sechs Verhältnisse schwerpunktbildend ist, wird die Tendenz bestehen, den Partner einseitig zu bemuttern oder zu bevatern.
Die Seele für sich allein besteht nicht. Sie ist nicht nur das Verhältnis zwischen ich und du, sondern auch das, was Körper und Geist verbindet. Der sechsfältige seelische Raum wurzelt, von der einenden Kraft des Bewusstseins her gesehen, im sechsten Energiefeld, dem Ajna-Chakra. Er ist wahrlich nicht der siebte Himmel! Leicht verfängt sich die Person in der Sechserstruktur und identifiziert sich mit ihren Seelenqualen. Ein seelisches Verhältnis ohne körperliche Erdung und ohne geistige Bezogenheit wird selten tragfähig sein.
Zwischen Ich und Du ist ein Strömen, ein Austausch. Es gibt kein statisch bestehendes Ich. Es ist der Freiplatz in der Mitte, der Leerplatz, an dem von Augenblick zu Augenblick Ichbewusstsein entstehen kann; jener Wer auftauchen kann, wenn dieser Leerplatz nicht von einer falschen Ichvorstellung, einer Befindlichkeit besetzt ist.
Das Problem im Bereich der Seele ist das Festhalten an etwas, was es gar nicht gibt: an Zustandsvorstellungen und Befindlichkeiten, die einander ablösen, die wir selbst schaffen, indem wir sie als Ich zusammenfassend bezeichnen. Ich möchte dies — ich bin traurig, besorgt — Ich als Mutter. Das wahre Ich-bin ist Dasein im Vergehen, ein Bestehen im Strom des Lebens.