Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg
I. Die sieben Prinzipien des Bewusstseins
Denken
Denken ist die Fähigkeit, Phänomene mittels Symbolen — das heißt Wort und Zahl — miteinander in Beziehung zu setzen und daraus einen Zusammenhang zu bilden, der wieder auf seine Elemente zurückgeführt werden kann; zum Beispiel: Farbe und Form sind Sinneswahrnehmungen. Wesentlich ist also die Rückführung auf Elemente, aus denen sich durch Berücksichtigung anderer Komponenten weitere Kombinationen vollziehen lassen.
Man spricht von der geistigen Ebene und meint damit oft die Denkebene eines Menschen; die Weite, Dichte, Differenzierung seines Schaltplans.
Tatsächlich bewegt sich das Denken auf der Dimension der Fläche. Der Vorgang entspricht der Division, dem Urteilen, das prinzipiell am Gegebenen ansetzt, Beziehungen feststellt, ortet und erkennt.
Die Landkarte ist ein Produkt der Denkfähigkeit, und nicht mit der Wirklichkeit identisch: The map is not the territory
. Das Denken selbst schafft nichts Neues, und trotzdem ist Erkenntnis die eigentliche Neuerung im Bewusstsein, die Fortschritt ermöglicht, den Schaltplan erweitert.
Erkennen, verstehen, begreifen, urteilen, schließen, Induktion und Deduktion sind Denkschritte. Richtig und falsch, adäquat, klar, deutlich, verständlich, sinnvoll und sinnlos sind Kriterien des Denkens.
Wir erwarten vom Denken, dass es unparteiisch sei und Klärung bringt; dass es persönliche Meinungen berichtigt, verifiziert, also bis zu einer objektiven Wahrheit vorstößt. Trotzdem soll es den Menschen einbeziehen; eine Beteiligung des innersten Wesens ist Voraussetzung des Verstehens, das dem Wer die Beziehung zum All eröffnet.
Denken ist die Leitfunktion des Menschen. Die Pflanze ist empfindsam. Sie ernährt sich aus den Photonen des Lichts. Die Tierwelt wurzelt in den Trieben — Nahrung, Fortpflanzung, Sicherung und Aggression — die Grundlage des Fühlens sind. Der Mensch aber gestaltet den Sinneszusammenhang seiner Welt über das Denken.
Das Denken, wie wir es heute in der Technik sehen, bietet unabsehbare Möglichkeiten und birgt unzählige Gefahren. Auf diese Gefahren haben die vergangenen Epochen des Fühlens, Wollens und Empfindens aufmerksam gemacht. Für sie war das diskursive Denken der Feind, den es zu überwinden galt. Aber diese Einstellung wird dem anbrechenden Denkzeitalter keine Lösung bringen können; die technische Zivilisation ist unser Schicksal. Daher muss das Denken erweitert werden und alle Aspekte der Denkfähigkeit bis zur Transzendenz und Metaphysik umfassen. Während das Empfinden Kontakt mit Gegebenheiten herstellt oder auch nicht, können sich Denkschritte in mechanischer Folge fortsetzen und in falscher Vorwegnahme der Erfahrung vorauseilen. Wer hat nicht erlebt, wie schwer Gedanken abzustellen sind und dass sie weiterlaufen wie eine Grammophonplatte? Hier gilt es, den inneren Dialog abzustellen.
Wie wesentlich ist das Einbehalten von Worten! Wie notwendig ist es oft, einen Einfall stehen zu lassen, nicht weiter zu spinnen und zu kombinieren, sondern zu warten, bis echte Erkenntnisse, relevante Bezüge sich knüpfen. Wie leicht verrennt man sich im Denken!
Wichtig ist es, das Innehalten zu üben, wenn mechanische Gedankenketten einen mitreißen. Es gibt keine negativen Gedanken; was so scheint, ist allemal ein Denkfühlen, ein Rechtfertigen, Erklären und Verbalisieren von Emotionen, das aber nicht klärt, sondern in falsche Bedrängnis führt.
In unserem Zeitalter hat das Denken dennoch eine positive Rolle. Verstehen bedeutet, alle möglichen Beziehungen im Weltall zu erfassen. Da alle Zusammenhänge sich auf Parameter der Zeit und des Raumes zurückführen lassen, können wir sie durch Zahl und Maß, Arithmetik und Geometrie bestimmen. Im echten philosophischen System — dem System der Natur — ist jedes Ding an seinem Platz und dadurch definiert.
Vor über sechstausend Jahren, in der Zwillingszeit, war das Denken bereits einmal die Grundfunktion gewesen: das Zeitalter der Kalenderkulturen. Auch unsere Epoche des Wassermann ist ein Zeitalter des Denkens. Die Analyse zu vertiefen bis zu den Urgründen, und die Synthese bis zum Verständnis aller möglichen Erfahrungen und Erkenntnisse voranzutreiben — das ist wohl ohne Zweifel die vordringlichste Aufgabe unserer Epoche.