Schule des Rades
Wilhelmine Keyserling
Anlage als Weg
I. Die sieben Prinzipien des Bewusstseins
Fühlen
Fühlen ist das persönliche und subjektive Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner Welt. Es wurzelt in der Triebkraft, der Wunschkraft, die auf Erfüllung gerichtet ist. Diese Erfüllung kann körperlich, seelisch oder geistig sein, aber immer äußert sich das Fühlen als ersehnen, angezogen-sein, lieben (aber nicht im Sinne der Wesensliebe als Medium der Welt) oder verabscheuen, befürchten, hassen. Angenehm — unangenehm, verbinden — trennen, erfreuen — betrüben und unzählige andere sind Polaritäten des Fühlens.
Die Triebkraft bildet vier Kreisläufe, die auch der Tierwelt eigen sind: Nahrungstrieb, Aggressionstrieb, Sicherungstrieb und Fortpflanzungstrieb.
Diese affektive und emotionelle Kraft äußert sich beim Menschen in verschiedensten Kombinationen. Die Angst verlangt Sicherung aller Art, die Aggressivität kennt verschiedenartige Waffen und gebiert vielfältige Ambitionen, der Hunger schafft die raffiniertesten Bedürfnisse und der Fortpflanzungstrieb zeitigt den Wunsch, sich tausendfältig über Kinder, Werk, Kunst, Ruhm etc. zu verewigen.
Jeder dieser Kreisläufe bildet einen in sich geschlossenen Zyklus wie Hunger — Sättigung und wieder Hunger. Wir wissen, wie leicht Gefühle umschlagen.
Außerdem müssen alle vier Triebe eine Auswirkung finden und im Gleichgewicht zueinander stehen. Wenn der Geschlechtstrieb nicht ausgelebt wird, mag die Eßlust oder Aggressivität überhand nehmen. Diese Wunschkraft, die sich immer auf etwas oder jemanden richtet, oder auf etwas reagiert, die fluktuiert, einem Trieb entspringt, wird als unstetig, mitreißend, als Verhängnis erlebt, sobald man sich mit der einen oder anderen Tendenz identifiziert. Man weiß, dass das Fühlen Trauer schaffen kann und hat Angst vor dieser Traurigkeit, diesem Leid. So entstehen die verschiedensten Versuche, bewusst oder unbewusst mit dem Fühlen fertig zu werden, wie zum Beispiel verdrängen, ignorieren, flüchten oder sublimieren.
Der Labilität des Fühlens ausgesetzt zu sein, scheint beschämend; aber wie sollte man das Fühlen, das seiner Art nach ein Fließen ist, stabilisieren? Wenn man den Kreislauf zwischen Wunsch und Befriedigung hemmt, so lähmt man die emotionelle Kraft, die den Antrieb jeglicher Initiative darstellt. Ist es nicht das Gefühl eines Mangels, der Wunsch etwas zu werden, zu haben, zu können, ist es nicht oft die Trauer, die den Anstoß zur Überlegung (denken), Entscheidung (wollen), Bemühung (empfinden) gibt und alles ins Rollen bringt? So kann der Wunsch zum Anlass werden, der in eine Verwirklichung führt, die weit über seine Befriedigung hinausgeht.
Die Wunschkraft, die zum Wesenswunsch wird, ist letztlich auch die Antriebskraft, über die sich der Mensch verwirklicht. Fühlen ist jene Funktion, deren Art im Fließen, im Vergehen, im sich-Erneuern liegt. Sich freuen, befürchten, vertrauen, lieben, hassen und alle unzähligen Schattierungen des Fühlens sollen als Verben gelebt und nicht substantiviert werden. Auch hassen kann notwendig sein, Kraft sein und sich sogar in lieben verwandeln, solange es nicht zum Hass erstarrt; auch trauern führt weiter, erzeugt Kraft, solange nicht die Trauer als Kummer gehütet, wiedergekaut und in einem Vorstellungskomplex fixiert wird.
Wo ist aber die Ruhe zu finden, die uns erlaubt, uns dem Fluss der Gefühle anzuvertrauen und nicht fortgeschwemmt zu werden?
Die Fischezeit, das vergangene Zeitalter des Geist-fühlens (200 v. Chr. — 1962) sah die Wurzel aller Probleme in den Wünschen, und die Erlösung in der Sublimierung und Ritualisierung der Triebkraft. Die buddhistischen Mönche entwickelten Methoden der Enthaftung, die christliche Welt versuchte Leidenschaft und Liebe, Inbrunst und Sehnsucht auf Gottes Sohn zu richten, in göttliche Liebe zu verwandeln, um aus dem Tal der Tränen befreit zu werden. Aristoteles schlug einen Weg der Mitte zwischen den Gefühlsextremen vor: Mut zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Generosität zwischen Verschwendungssucht und Geiz…
Die Triebkräfte müssen zwar ihren Ausgleich finden, aber diese sogenannte goldene Mitte hat nichts mit der eigentlichen Mitte zu tun. Der aristotelische Ausgleich bleibt im circulus vitiosus der Gefühlswelt hängen. Das Rad weist auf eine andere Möglichkeit des Gleichgewichts: indem der Mensch alle vier Funktionen erweckt und verfeinert, vertieft, indem er sein Kreuz auf sich nimmt, und die Gegensätze fühlen — empfinden und denken — wollen besetzt und zu tragfähigen Balken seines Kreuzes macht, aus deren Zentrum er mittels dieser vier Beweger wirkt.
Das Fühlen ist die subjektive Funktion, über die der Mensch die Welt auf sich bezieht, und sein Verhältnis zu ihr erlebt. Aber wer ist das Subjekt? Hier wird die Frage nach diesem dringend. Wer ist es, dem trauern und sich freuen zur Kraft gereicht? Wer ist es, der angenehm und unangenehm gleichermaßen auf sich nimmt, der zwischen echten Wünschen und Tagträumen unterscheiden kann?
Das Fühlen scheint unsere Welt entzwei zu teilen: was dem Leben zustrebt ist gut, was in den Tod führt, böse. Nur jenes Bewusstsein, das auch der Zeuge oder der Wer genannt wird, ist imstande Trauer und Freude, Leben und Tod als zwei Aspekte ein-und-desselben zu betrachten.
Ist dieser Wer über die vierte Funktion zu erreichen? Muss die emotionelle Kraft des Nabels ins Herz aufsteigen, dort geborgen werden, um als Herzenswunsch wieder herabsinkend Verwirklichung zu finden?