Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Ars Magna

IV. Mystik · Das Tor des Westens

Yoga

Nur vom Wollen her kann der Mensch die Fülle des Pleroma empfangen und die Mitte des Tonal erreichen. Das Erreichen der Mitte, dem unsterblichen Atom mit seiner Allbezogenheit selbstverständlich ist für den Menschen das Problem des Zugangs zu seinem wahren Bewusstsein. Was heute als Bewusstsein bezeichnet wird, weilt an der verbalen Peripherie, wer sich mit dem Mitmenschen im Rahmen der gegebenen Kultur orientieren kann, gilt als erwachsen und entscheidungsfähig. Aber er ist es nicht, weder zu sich, noch zum Mitmenschen hat er den wahren Kontakt. Dieser ist nur zu erreichen, wenn er das Verborgene enthüllt, räumlich bis zur Mitte der Motive und Assoziationen vordringt, und zeitlich vor seine Geburt und hinter seinen Tod, in sein Dasein im Großen Rund des All. Dieses Durchstoßen ist das Ziel der Mystik; das griechische Wort Myein heißt das zu erleben, was man mit geschlossenen Augen wahrnimmt. Die meisten Menschen sehen bei geschlossenen Augen gar nichts, außer vielleicht die Phospheme, die Lichterscheinungen auf der Netzhaut, die dann in die freie Phantasie des Traumes einbezogen werden können.

Der Mensch ist dann Subjekt in chinesischer Formulierung,

  • wenn er erstens, verantwortet für das was er tut: Dies ist eine äußere Bestimmung, die auch gesellschaftlich anerkannt wird.
  • Zweitens, wenn er für das verantwortet, was ihm zustößt; nur Menschen, die sich mit Psychologie eingelassen haben, werden diese Tatsache eingestehen, und kaum einer wird dazu kommen, solange es ihm im bürgerlichen Dasein gut geht.
  • Drittens, dass er weiß, dass er diese Lage gewollt, also konstelliert hat. Wenn es gut geht, meinen das viele, aber wenn es schlecht geht, suchen sie die Schuld bei anderen.
  • Viertens, dass die Lage gut ist, wenn sie auch noch so schmerzhaft erlebt wird; nur aus der gegebenen Wirklichkeit ist eine Möglichkeit zu aktualisieren.
  • Fünftens aber, und dies ist am schwersten einzusehen, dass das Leben nur dann fließt, wenn man sein ganzes Dasein in den Dienst der anderen stellt, in der Hingabe existiert, also in der Liebe wurzelt.

Wer dies nicht nur erkennt, sondern auch versteht und aktualisiert, der wird früher oder später imstande sein, das Tor des Westens zu durchstoßen und die echte Kommunion mit dem Mitmenschen und mit Gott aus der Wesensmitte zu erreichen.

Der bürgerliche Mensch, der für seine Kultur einsteht und sich als Ich für die Weltgeschäfte verantwortlich hält, kennt weder den Tod noch die wahre Liebe. Seine Gerechtigkeit gleicht der Erwachsenenstufe der Transaktionsanalyse, die jener erreicht, der nur für Gegenleistung etwas tut. Er weiß nichts davon, aus der Wurzel des All getragen zu sein. Der Zustand des Gebens, ohne nehmen zu wollen, den Freud als genital, Reifezustand der Sexualität bestimmte, nämlich zu lieben, ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen — gilt ihm als weltfremder Idealismus. Tatsächlich ist die Liebe realitätsbezogen; wer nicht das transpersonale Bewusstsein erreicht, ist in einem falschen Traum, aus dem er erwachen muss, um die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist.

Die Religionen und Wege sind verschieden, doch die Mystiker aller Zeiten und Länder berichten das gleiche. Der Text einer chassidischen Legende, wie Martin Buber sie schilderte, könnte genauso eine taoistische Erzählung sein wie eine Sufilegende, eine Geschichte von Mullah Nasreddin. Je näher die Wege dem Zentrum kommen, desto mehr gleichen sie einander. Aber nicht im Sinne der Formulierung. Jean Herbert, der seinen Meister in Shri Aurobindo gefunden hatte, wollte einmal zu Ramana Maharshi, hatte aber Sorge, weil dieser ganz etwas anderes lehrte als Aurobindo. Er fragte letzteren um Erlaubnis, worauf der ihm sagte, Ramana lehre genau das gleiche. Darauf ging er zu Ramana und fand tatsächlich diametral entgegengesetzte Vorstellungen. Er fragte nun Ramana, und zu seinem Erstaunen sagte auch dieser, er lehre genau das gleiche wie Aurobindo.

Wie Pythagoras das Tor des Nordens und die Taoisten das Tor des Ostens eröffneten, haben die Inder das Tor des Westens durchstoßen und allgemein zugänglich gemacht. Es gibt keinen echten Hindu, für den nicht Ramana Maharshi, Sai Baba oder Shankaracharya einen größeren Wert hätte als Nehru, ein Wirtschaftsführer, Universitätsprofessor, Politiker oder Künstler. Und während die Mystik in Europa sehr oft anempfunden lyrisch ist, wie bei Tauler, Seuse, Franck, Weigel und sogar Böhme, sind in der indischen Überlieferung die Kriterien der subjektiven Wahrheit ebenso exakt bestimmt worden, wie jene der objektiven Wahrheit durch die europäische Naturwissenschaft. Daher gilt es ihre Terminologie zu verwenden, um zur Klarheit zu kommen: der Generalnenner allen Strebens nach innen, der experimentellen Mystik ist der Yoga mit dem Ziel der Anjochung des Bewusstseins an den Weltengrund, wie immer dieser auch bestimmt sein mag; auf dem Weg der Hingabe, des Denkens, des Handelns oder der Verinnerlichung.

Wenn Meister Eckhart von der Abgeschiedenheit sprach, die Gott in sich hineinzwingt, von jenem dunklen Grund des Wollens jenseits der Dreieinigkeit, in der die Seele selbst die Trinität von Vater, Sohn und Heiliger Geist — in Entsprechung zur indischen Trimurti Brahma der Schöpfer, Vishnu der Erhalter und Shiva der Zerstörer — überwindet, um den Born der Schöpfung zu erreichen — den unendlichen Brahman, der das Endliche gebiert — dann redet er von einer existentiellen Erfahrung, einer geistigen Wiedergeburt. Bevor einer diese erreicht hat, ist er noch nicht zu sich selber erwacht. Er liest die Anweisungen, wie man zur Bekehrung kommt, bei Eckhart aus den anagogisch verstandenen Worten der Bibel, und muss seinen Weg selber finden. Die Inder dagegen haben diesen experimentell verstanden, indem sie die denkerischen Begriffe, die wir im pythagoräischen Tor geklärt haben, in Wegweiser des Wollens verwandeln. So mag es sein, dass ein indischer Meister einen Schüler mit richtigen Formulierungen zurechtweist, einem anderen mit falschen Formulierungen aber die Wahrheit seiner Intention bestätigt. Nur jenes Wissen, das uns weiterbringt, hat existentielle Bedeutung. Lehren im Sinne der Übertragung von theoretischem Wissen führt auf dem westlichen Weg in die Irre. Ein Guru ist kein schulischer Lehrer, sondern jener, der die Hindernisse wegräumt, die einem Menschen seine Mitte verbergen. Er stellt keine Fragen, verkündet keine Lehren, sondern antwortet nur, übt die sogenannt katechetische Methode. Die Adepten müssen die Fragen finden, entdecken oder suchen, und wenn sie sinnvoll sind, dann antwortet er darauf, sonst schweigt er.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Ars Magna · 1982
Kriterien der Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD