Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Ars Magna

V. Magie · Das Tor des Südens

Wiedervereinigung der Traditionen

Religion ist immer eine geschaffene feste Verbindung zwischen Tonal und Nagual. Sie beruht auf einer Offenbarung, die diesseits und jenseits, in Riten und Worte gefasst, in bestimmter Weise verknüpft. Wenn man viel reist, erlebt man die Wahrheit des Spruches aus dem 17. Jahrhundert: cuius regio eius religio. Ein Hindutempel in Pakistan scheint wie ein folkloristisches Museum, eine katholische Kirche in Schweden ist wie im Untergrund, Protestanten in Österreich sind, wie das Wort sagt, protestierend. Das gilt nicht nur für die Offenbarungsreligionen, sondern auch für die Weltanschauungen; wer in kommunistischen Ländern über die Weltrevolution witzelt, wirkt ebenso schokierend, wie jemand, der sich in einer katholischen Kirche über die Eucharistie lustig macht.

Jede geschaffene Verbindung von Nagual und Tonal bildet einen Lebensstil. Fast immer ergänzt die Religion das nicht Gewusste durch gefordertes Fürwahrhalten. Gerade weil man sich nicht sicher ist über die Behauptungen der Offenbarung, wird jeder, der sie in Frage stellt, zum Feind, und mehr verfolgt als ein gemeiner Verbrecher. Die Grausamkeit der Inquisition, die Prozesse der stalinistischen Zeit, die KZ und GULAG, alle sind sie angstgeboren. Wenn alle das gleiche Bekenntnis hätten, dann wäre für die Bekenner die Wahrheit gesichert im Sinne der Anpassung an diese; das ist die Sehnsucht aller jener, die den Sinn ihres Lebens gleich Kindern von außen empfangen wollen.

Die vergleichende Religionsphilosophie hat zusammen mit der Mythen- und Märchenforschung die Vielfalt der Kosmogonien, Gottesvorstellungen, Bekenntnisse, Riten und Liturgien zur Darstellung gebracht, und ist in einer pluralistischen Haltung stehen geblieben. Doch offensichtlich liegt ihnen eine existentielle Wahrheit zugrunde, aus der sie sich entwickelt haben. Diese Wahrheit lässt sich nicht aus den Hochkulturen ermessen, die spezielle historische Entwicklungen haben, sondern nur durch Rückgriff auf jene Zeit, da das Denken den Menschen noch nicht aus der Naturharmonie abgespalten hatte: in der Überlieferung der Altsteinzeit lassen sich die wahren Kriterien der Offenbarung herausschälen. Damit lässt sich das Rad der Weisheit vollenden: das Tor des Südens eröffnet den Zugang zum All durch die Magie.

Ich habe die Struktur des Rades im Nacheinander kennen gelernt. 1943 erlebte ich es als Vision; 1947-1956 kümmerte ich mich um Phänomenologie und Astrologie. Von 1957-1965 standen Wissenschaft, Geschichte und Mathematik im Vordergrund, von 1966-1980 Yoga und Psychologie. In den letzten Jahren lernte ich zuerst theoretisch über Castaneda, dann praktisch über Hyemeyohsts Storm und Swift Deer die indianische Überlieferung kennen, und damit gelang mir der Einstieg ins magische Denken.

Erinnern wir uns an die anthropologischen Stadien, die den psychologischen Reifestufen entsprechen. Durch mehr als 100.000 Jahre lebte der Mensch als homo faber, als das werkzeugschaffende Tier mit den anderen Naturwesen in Harmonie. Die Sprache diente dazu, Visionen zu verkörpern, also die Instinkte bildhaft und mythisch bewusst zu machen. Der Tonal war ein Gerät des Nagual. Vom richtig durchgeführten Jagdzauber wo zum Beispiel eine Tierzeichnung mit dem Pfeil getroffen wurde hing der Erfolg der tatsächlichen Jagd ab, wie C. G. Jung aus einer Reise nach Afrika berichtet. Der homo faber entspricht dem Kind, das aus seiner rechten Hemisphäre heraus seine Motive bildhaft in der Sprache durchspielt. Diese Sprache ist körperbezogen und hat etwa 300 Worte, die genügen, um die Visionen zu veranschaulichen.

Von allen Überlieferungen der Erde hat nur die indianische diese Sprache als Zeichensprache der Hände unverfälscht beibehalten. Die indianischen Lautsprachen unterscheiden sich ebenso voneinander wie die europäischen oder afrikanischen, doch die Zeichensprache wird von allen Stämmen verstanden.

Mit der neolithischen Revolution, dem Sündenfall, entstand der homo sapiens, der fortan zwischen soziokultureller Überlieferung und Instinkten lebte, mit Trennung der Rollen von Mann und Frau, was schließlich überall in der Unterdrückung der letzteren endete. Die Urüberlieferung wurde vergessen, und an ihre Stelle trat eine dichterische Kosmogonie wie das Sechstagewerk der Juden oder das mit dem Schwanz wedelnde Urkrokodil, das den Flussschlamm aufwühlte und damit die ersten Wesen erschuf; die Urschlange, die sich bei den Griechen um das Weltenei ringelte und die Schöpfung hervorbrachte, die Göttergenerationen, da einer den anderen gewaltsam ablöst, wie die Folge Gaia — Uranos — Kronos — Zeus. Die Erfindung von lesen und schreiben verselbständigte die Traditionen, mythisch der Turmbau von Babel, und damit kam es zu einer Vielfalt von Kulturen, die die Gegenwart kennzeichnen.

Mit dem Beginn des planetarischen Bewusstseins wird die zweite Mutation fällig: nur jene Menschen können überleben, die selbst zu Kulturheroen werden, also ihren eigenen Willen in der technischen Zivilisation aktualisieren. Wie in der nördlichen Überlieferung der einzelne zum Meister werden muss, so soll er in der südlichen die seelische Einheit mit dem All wiederfinden. Er muss rechts und links miteinander verbinden, muss die Kriterien der Offenbarung erkennen, um seinen eigenen Weg in Einklang mit den Geistern des Kosmos zu bahnen. Als homo divinans ist er einerseits Gott gleich, da er in der Liebe gegründet das Wohl der anderen will, und andrerseits fähig, die Instinkte als Eingebungen im Zusammenhang mit dem All wiederzufinden — divinare — ohne dabei auf sein rational-strategisches Rüstzeug zu verzichten.

Die Überlieferungen der Indianer sind kosmogonisch verschieden, aber einige gemeinsame Nenner lassen sich herausschälen. Im Anfang existierte das Zwillingspaar Sonne-Jupiter. Aus letzterem löste sich Luzifer, der erste Planet, der von Menschen aus dem Zentrum der Milchstraße nagualisch besiedelt wurde. Dieser Planet wurde in einer kosmischen Katastrophe zerstört und so gingen die Menschenwesen als Geister auf die Erde, um hier ihre Pflanzstätte zu ihrer Reife vorzubereiten. Weitere kosmische Katastrophen kennzeichneten die Geburt der übrigen Planeten, bis ihre Neunzahl vollendet war. Der Untergang von Kontinenten wie Atlantis und Lemurien ähnelt der Überlieferung der Theosophen.

Nur auf dem amerikanischen Kontinent erhielt sich die Urüberlieferung rein, da die indianischen Stämme lesen und schreiben nicht entwickelten und der magische Schamanismus die zentrale Religion blieb. Mit der weißen Kolonisation — die die Prophezeiungen der Inkas und Hopis vorausgesehen hatten — kam es zur Zerstörung der kosmisch orientierten Kulturen. Die Schamanen zogen sich zurück, gingen in den Untergrund. Bei den südamerikanischen Mestizen bildete sich eine synkretistische Verbindung von Katholizismus und Schamanismus, die vor allem heute in den Vordergrund tritt.

Die Vernichtung der Indianerkulturen, wie der afrikanischen rührt daher, dass der altsteinzeitliche Mensch sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass jemand aus Egoismus heraus handelt, weil dies für sie ein Verbrechen war. Da nun das Kommen der Weißen als geistig nächster Schritt prophezeit worden war, mussten sie den Spaniern mit ihrer Raubgier ebenso wie den kapitalistischen Puritanern schon wegen derer höheren technischen Zivilisation unterliegen.

Don Juan erklärte: für den Durchschnitt der Indianer war das Kommen der Weißen das größte Unglück, die totale Zerstörung ihres Tonal. Doch für eine andere Art von Indianern, die Schamanen und Zauberer, war es das größte Glück: fortan mussten sie sich auf das beschränken, was die weiße Kultur leugnete und ignorierte; auf den Zugang zum Nagual. Manche der südamerikanischen Schamanen flüchteten in den hohen Norden zu Stämmen, die noch im Zustand der Sammler und Jäger lebten. Die Politik der Reservate Nordamerikas im Unterschied zur Zwangsbekehrung Südamerikas ermöglichte nun diesen Großvätern, wie sie genannt wurden, die Überlieferung von allem kulturellen Beiwerk und Aberglauben zu lösen und die Magie in ihren Kriterien herauszuschälen.

Mit dem Beginn der Wassermannzeit wurde klar, dass nun die neue kosmische Rolle des magischen Denkens beginnt. Der Mensch wird wieder normal, findet seinen Ort in der Natur; der Löwe, das frühere Paradies ist das Gegenzeichen des Wassermann.

Manche der Großväter wussten, dass ich das Rad des Nordens und Ostens entschlüsselt hatte und so kam es 1980 in Irland zum Treffen mit Swift Deer, später in Wien mit Storm. Zuerst schienen die Überlieferungen und Strukturen diametral entgegengesetzt zu sein, aber dann gewannen wir Einblick in den Zusammenhang, und die indianische Überlieferung der heiligen Zählweise erwies sich als letztes fehlendes Glied der Ars Magna.

Wie weit die amerikanische Überlieferung der Wahrheit entspricht, lässt sich kaum mehr ausmachen, ist aber auch gleichgültig: jetzt und hier gilt es in der Wassermannzeit den Neuen Bund zu knüpfen, auf den alle Prophezeiungen letztlich hinzielen; die klassenlose Gesellschaft der Marxisten, die Gemeinschaft in Freiheit der Konfuzianer, das Reich des Heiligen Geistes der Christen, die Gottesfreundschaft der Schiiten, die Offenbarung von Jagganath, dem göttlichen Schmied und Herren des Universums als neunte Inkarnation Vishnus. 1982 im Luziferjahr sollte nach Prophezeiung aller Schamanen die Wiedervereinigung der Traditionen stattfinden, und ein Beitrag hierzu ist die Wiederherstellung oder Vollendung des Rades als Struktur aller Kriterien der Offenbarung.

Betrachten wir die Magie nun in ihrer Grundstruktur, wie sie für jeden unmittelbar zugänglich wird. Die indianische Herkunft wird gleichgültig; die Altsteinzeit lebt genauso in den bäuerlichen Traditionen von Europa weiter und lässt sich existentiell wie kritisch ohne Schwierigkeit aus ihrer elitär-ideologischen Verfälschung herauslesen.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Ars Magna · 1982
Kriterien der Offenbarung
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD