Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Magie der Chakras

1. Gott

Die unendliche Welt hat einen Ursprung, der sie erschafft, erhält, und dauernd befruchtet. Dieser Ursprung ist weder zu begreifen noch zu bestimmen, aber er ist zu erleben. Wenn ich mit dem Denken an das Nichts oder die Unendlichkeit heran gehe, muss es scheitern; sowohl Nichts als auch Unendlich sind nicht denkbar. Aber sie sind erlebbar, und manchmal kann das Denken bis an die Schwelle der Unendlichkeit zu einem inneren Durchbruch führen, der uns den Quell der Welt als Gott und als allumfassende, strömende und schaffende Liebe gegenwärtig macht.

Schöpfung aus dem Nichts bedeutet Schöpfung aus der Potentialität, die virtuell alles enthält, was ist und sein kann. Ob ich sie materiell aus kosmischer Energie begreife, seelisch als dauerndes Geschaffenwerden meiner selbst dem Ewigen gegen über oder geistig als Quell unendlicher Möglichkeiten: sobald ich mich diesem Born öffne, strömt seine Fülle in mich ein. Gott als Name ist eine Chiffre des Unsagbaren. Brahman, Wu Chi, Wakan, Allah, oder auch Nichts, Nirvana, der Quell der Aufmerksamkeit, das Dunkle Wollen der Schöpfung bei Scottus Eriugena, alle weisen sie auf diesen Ursprung hin, aus dem alles stammt und zu dem alles zurückstrebt. In ihm ist weder gut noch böse, weder männlich noch weiblich, weder werden noch vergehen. Außerhalb von Raum und Zeit ist es dennoch ergreifbar. Gehen wir noch einen Schritt weiter: wir können gar nicht sprechen, ohne in Gott zu sein, denn unser Wesenskern ist ewig und in Freude mit dem göttlichen Ursprung eins.

Schöpfer und Geschöpf sind durch Identität verbunden. Doch das Geschöpf ist kleineren Umfangs als sein Ursprung, hat die Haltung des Empfangens und der Überantwortung. Als Dasein ist es in der Welt der Verschiedenheiten, muss seine besondere Rolle ausfüllen, erfinden und verwirklichen, die nicht vorgegeben ist, sondern als Antwort auf die Mitwesen entsteht. Gott lässt sich als Schönheit anmuten; dann wird er als Seligkeit über das Empfinden erfahren.

Gott lässt sich als Wurzel der Güte dankbar erleben, denn außer dem Ursprung gibt es keine Güte; damit wird das Fühlen entfacht. Gott lässt sich in kristallklarer Wahrheit empfangen und wiederum wird dem Denkenden diese als Gliederbau der Wirklichkeit und Sprache zuteil. In diesen drei Wegen wird Gott als Gegenüber erfahren, als Antlitz. Im Wollen, im Auftrag dagegen und in der persönlichen Hingabe wird Gott zum Partner des Menschen, zum Freund. Empfangend findet man Urvertrauen, handelnd findet man Weisung und Hilfe; aber nicht im Sinne eines Gehorsams, da dieser nur über das Denken möglich ist und alles Denken auf Grund seiner sprachlichen Fassung immer nur den gegenwärtig erfahrbaren Ausschnitt der Welt betrifft. Gott offenbart sich dem Wählend-Entscheidenden, Handelnden als Hinweis, als Quell, sobald man die Frage nach dem Sinn für alle stellt und nichts zwischen sich und ihrer Erfüllung treten lässt.

Der Mensch als Summe von Ichs ist fleischgewordene Strategie; als solcher ist er Freund Gottes. Denn das Mögliche ist indifferent; nur durch den Bezug auf Gott und den Mitmenschen lässt sich die förderliche Zielrichtung von Augenblick zu Augenblick als Zeichen oder Begebenheit erkennen.

Zu sagen, Gott sei allwissend, ist für mich falscher Gebrauch der Sprache. Die Fülle bedarf keines Wissens und auch keiner Macht; sie strömt aus dem Urgrund, ohne sich darum zu kümmern gleich der Liebe, von der Goethe sagte: wenn ich dich liebe, was geht’s dich an?

Gott ist nur allgegenwärtig, wenn ich ihn dazu mache. Ohne mich ist Gott nicht wirkend, doch als Stratege fällt mir von ihm das zu, was ich zum Ganzen immer nur als Antwort hinzufügen kann. Die Wahrung Gottes verlangt Kampf innen und außen: außen, um den Durchgang zum Quell in Ordnung zu halten, auf dass kein kleinerer Ursprung und damit falscher Geist den Weg verstelle.
So ist jedes Bekenntnis immer wieder zu Überwinden, sobald es vermeint, in den Worten Gott gefangen zu haben. Jedes Bekenntnis kann ein Weg zu Gott sein, niemals aber ein Inhalt; Gott ist kein Besitz. Nach innen zu müssen alle Gedanken schwinden, auf dass ich das wahrnehmende Nichts erreiche; die Seele ist ewig empfangend auf den Ursprung abgestimmt. Daher ist kritisches Denken, das Zerstören all dessen, was analytisch zersetzt werden kann keine Unfrömmigkeit. Im Gegenteil, das einzig wirklich Böse in der Welt ist, wenn einer behauptet, das Gute zu besitzen. Gott ist immer nur im Werden erlebbar und das Sein ist Ausdruck dieses Werdens; nie ist er zu haben. Und doch ist er zu empfangen: die Frage des Habens stellt sich im Augenblick echter Befruchtung nicht, Empfangender und Schöpfer erleben ihre übergreifende Einheit.

Während ich dies schreibe, ist mir zumute, als ob lauter unnötige Verzierungen vom grandiosen Weltgebäude abfallen und sich das ursprüngliche blaue Kristallschloss in seinen Grundpfeilern offenbart. Die Verzierungen der Glaubensformen haben ihren Sinn, waren wie kleine Gärten, die an vielen Stellen der Wildnis entstanden, aber keinen Zusammenhang bildeten. Nur die Materie selbst, das Kristall, kann die Reinheit zurückbringen; daraus wird ein neuer Reichtum entstehen. Das Kristall ist die höchste Form des Lebens, weil es das Licht durchlässt und dabei in Kraft verwandelt, in die Kraft des Beharrens und der Freude.

Beharren kann tödlich sein, wenn es nicht in Transparenz geschieht. Wer glaubt, dass er Kraft hat, verliert sich dadurch an die Vergangenheit, an einen geistigen Tod oder Schlaf. Doch kann er wieder aus diesem erwachen, sobald er weiß, dass immer nur Gott durch ihn wirkt. Gott ist nicht nur Urbild des Menschen, sondern Ursprung aller Wesenheiten des Universums. Pflanzen, Tiere und Geister sind ebenso in ihm gegründet wie jener Mensch, der den Zugang zum Ursprung freigekämpft hat.
Kampf heißt es, weil es einer Anstrengung bedarf, die die eigene Vernichtung mit einschließt; denn nur als Nichts, als Leere, kann der Wesenskern dauernd das Göttliche empfangen.

Jeder erlebt Gott als Auftrag als das zu Tuende. Nur unter vollem Einsatz aller Kräfte kann er diesen überhaupt erfassen, gleichsam im Flug erahnen; die Eingebungen sind so zart, dass sie dem gewöhnlichen Denken entfliehen. Selbstbehauptung als Organ des Universums setzt Vertrauen nicht nur in Gott, sondern auch in sich und die eigenen Motive voraus.

Im Buch der Wandlungen heißt es: durch Umkehr wird man frei von Schuld. Schuld bedeutet, dass man durch seine Vergangenheit bedingt war. Umkehr heißt, dass man nichts selber macht, sondern es durch sich entstehen lässt. Nur die Intention ist mit Gott vereint; sobald eine Handlung beginnt, gehört sie zu den Kausalketten der Welt. Aber weder Gott noch der Wesenskern sind je darin verstrickt; was abläuft, sind die Bahnen des Reichtums der Welt.

So gilt es die Mitte des jeweiligen Koordinatennetzes zu wahren, ihren Seinszusammenhang mit allem zu erkennen und den innersten Punkt aus der Fülle dauernd neu zu erschaffen: Gott als Urgrund der Seele ist der dauernde Schritt von Nichts zum Etwas.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Magie der Chakras · 1983
Urstimmung des Gemüts
© 1998- Schule des Rades
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