Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Magie der Chakras

2. Mensch

Alle Kraft und alle Materie, aus der unser Körper gebildet ist, entstammt der Erde. Die Schwerkraft ist geheimnisvoll, sie entsteht aus der Eigendrehung der Erde. Die Erde ist ein Lebewesen, wir sind während des ganzen wachen Lebens von ihr abhängig. Auch alle unsere eigenen Bewegungen entstammen ihr, sind auf sie hin gerichtet. Muskeln dienen der Koordination der Bewegung, sind nicht ihr Ursprung. Erst durch die Chinesen haben wir wieder gelernt, dass die Verlängerung der Schwerkraft im Bewusstsein auf die Erdmitte uns zusätzliche Kraft gibt und dass wir viel mehr vermögen, als wir glauben, wenn wir unseren Organismus auf sich selbst beschränken und ihn unabhängig von der Tragfähigkeit der Erde betrachten.

Der Körper besteht aus den Elementen der Erde; doch die Fähigkeit ihn zu bewegen, entstammt nicht der Erde, sondern dem Licht der Sonne und der inneren Schau. Sobald ich eine Hand hebe, führe ich zuerst die Handlung in der Vorstellung durch und die Glieder folgen ihr. Auch das soeben erwähnte Beispiel, die Schwerkraftslinie oder Achse des Körpers auf die Erde zu verlängern, verlangt die Vorstellung.

Das Licht der Sonne bringt den Samen der Pflanze zum keimen und zur Entfaltung. So muss das Licht in sich die Tendenz der Entfaltung tragen, Vision ist also kein starres Bild, sondern jede enthält in sich den Keim, ja den Auftrag der Erfüllung.

Es ist die Fähigkeit der Elemente der Erde, die gleichzeitig Elemente des Kosmos sind, zu immer höheren integrierten Wesen zu werden, indem sie durch das Licht zusammengefügt werden. Die Sonne ermöglicht dem Baum, im Gegensatz zur Schwerkraft zu wachsen und seinen Stamm aufzubauen. Die Blätter nehmen die Lichtenergie auf, verwenden sie zur Herstellung des Kohlenwasserstoffs, und spalten das Wasser in seine Elemente.

Gebe ich mich der Erde hin, lasse ich mich fallen, so fühle ich mich von ihr geborgen wie bei einer Mutter. Die Kraft der Erde wird zur Freude. Die gleiche Freude habe ich, wenn ich eine Bewegung in einer Form vollende.

Die Energie, durch die ich an der Erde teilhabe, verströmt und wird zu nichts. Die Energie, die ich von der äußeren oder inneren Sonne habe — letztere ist die Kraft der Aufmerksamkeit, die mir Bewusstseinsinhalte erscheinen lässt — entstammt dem Nichts und wird zu etwas.

Zur Erde hin bin ich in dauerndem Sterben, zum Licht hin in dauerndem geboren Werden.

Vertraue ich mich der Erde an, so finde ich die dem Augenblick angepasste Bewegung und bin freudig. Vertraue ich mich der Vision an, so erfahre ich die Möglichkeit, die mir zum Einklang mit dem All verhilft. Diese Schau ist nichts anderes als der Bild gewordene Instinkt, der dem Tier die augenblicklich richtige Handlung nahelegt.

Kraft ist bergend und Vertrauen gebend, Licht ist wagend und vollendend. Kraft als Erfahrung ist Körper. Licht als Erleben ist Geist. Aber zwischen Erde und Himmel ist der Mensch, und zwischen Körper und Geist ist die Seele. Sie ist weder Kraft noch Licht, sondern beharrende Wesenheit, Struktur und Sprache: sie ist Sinn.

Die Zellen des Körpers fügen die Elemente der Erde nach dem immer gleichen Schlüssel des Genoms zusammen. Letzteres bedeutet eine bestimmte Kombination der Weltelemente. Sie sind bei allen gleich, nur die Art der Verknüpfung macht die verschiedene Individualität des Wesens aus. Jede Körperzelle enthält alle Komponenten des ganzen Leibes als Plan, doch außer einer Wachstumsmöglichkeit, Auge, Nase, Haut oder Zahn zu werden — sind alle anderen abgeblockt. So ist dieser Schlüssel der Kombination zwischen Empfängnis und Tod beharrend. Körperlich bestimmt er die Gestalt; geistig dagegen die Funktionen der Vorstellung, die Bewegung und den Rhythmus, was wir auf Grund unserer Sinnesschwellen als statische Form erleben, ist die kreisende Bewegung der Atome und Elektronen umeinander. Was wir als Bewegung erfahren, ist ihre lineare Richtung, ihre Zielsetzung, die einem Bilde folgt und damit dem Geist. Doch wer es erlebt, ist jener, der beide zusammenfügt:. aber nicht als geschlossene Individualität, sondern als Brücke zwischen Himmel und Erde. Geist und Körper.

Durch Atmung, Aufnahme von Sinneseindrücken und Stoffwechsel ist jeder Körper dauernd der Erde eingegliedert. Durch Visionen, Bilder und Vorstellungen steht der eigene Geist, die Einbildungskraft, in Zusammenhang mit dem All. Hierher rührt die Gefährdung des Menschen: da der Körper scheinbar der gleiche bleibt — die Geschwindigkeit des Zellenaustauschs ist oberhalb der Wahrnehmungsschwelle — und der Geist in der Erinnerung ein Selbstbild und Ichbild vorspiegelt, glaubt die Seele, dass sie einen Körper und einen Geist hat, den sie gleich einer Blase oder Kleidern herumträgt. Damit verliert sie beide Rückbindungen, sowohl jene zur Erde als ihrer liebenden Mutter, als auch jene zum vielfältig fordernden Himmel als ihren Vater. Sie verhärtet sich in ihrer Form, ist nicht mehr Brücke sondern Ei; meistens ein Windei, das nicht mehr ausgebrütet wird und die Schale, die Abgeschlossenheit für die Wahrheit nimmt.

Nun hat aber das menschliche Leben drei Komponenten: embryonale Existenz im Mutterleib, Leben in der Welt zwischen Geburt und Tod, und Dasein nach dem Tod im Geist. Für den Durchschnittsmenschen ist das Leben im Mutterleib genauso unzugänglich wie das Dasein nach dem Tod. Und doch gibt es zwei Modalitäten, in denen jeder am Tag beide erlebt: im Tiefschlaf ist er wieder Embryo ohne Bewusstsein, nur im Zellenwachstum und in der Regeneration geborgen. Er verbringt also ein Drittel seines Daseins wie im Mutterleib, im Einklang mit der Erde. Im Traum ist er im Bereich der ewig webenden Möglichkeiten des Geistes, die geprägte Form seines irdischen Daseins erweist sich als eine von vielen. Er kann seine Gestalt wechseln, ja sein Bewusstsein gleicht einem ganzen Theater, wo alle Gestalten des Traumes dramatische Figuren der eigenen Seele sind — oder vielleicht auch nicht; manche Völker glauben, dass die Seele im Traum tatsächlich in ferne Regionen im Himmel reist und dass diese astralen Projektionen jedem zugänglich werden, der an sie glaubt und die Vorbedingungen dazu erfüllt. Die Seele kann sich im Bilde des Körpers statisch begreifen; Dann erlebt sie die Welt und sich selbst als starres Gehäuse. Sie kann sich im Bilde des webenden Geistes für dynamisch halten und lebt dauernd auf irgendwelche Ziele hin — reich zu werden, geachtet zu sein und dergleichen. Beide Identifikationen werden mit der Zeit zu Krankheiten. Im Körper nimmt der Abbau überhand, der Alterungsprozess, und die geistige Vorstellung löst sich von der seelischen Wirklichkeit, sie wird Neurose und Psychose.

Nur in sich selbst, als Brücke erkannt, ist die Seele imstande, Bilder und Visionen zu verwirklichen und den Körper zu vergeistigen — also von weniger zu mehr zu werden. Das kann sie nur, wenn sie auf ihren Ursprung bezogen ist. der weder im Geist noch im Körper, weder im Himmel noch auf der Erde, sondern in Gott west. Eine Dynamik ist, Vorstellung zu verwirklichen. Eine zweite ist, selbst mehr zu werden, an der Schöpfung oder Evolution an höherer Stelle mitzuwirken, eine höhere Integration zu erreichen. Der Schlüssel zum Mehrwerden liegt im Sinn. Die Seele als Körper wird zum Hypochonder, die Seele als Bild wird zum Wahn. Doch die Seele als Sinn ist auf den ewigen Born der Fülle, auf Gott geeicht und erreicht damit die menschliche Bestimmung.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Magie der Chakras · 1983
Urstimmung des Gemüts
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD