Schule des Rades
Arnold und Wilhelmine Keyserling
Magie der Chakras
Vorwort
Einen Schritt über die Kriteriologie hinaus
Die Tradition der Chakras — jener Energiewirbel, die Geist und Körper im Bereich der Seele verbinden — findet sich in vielen Traditionen der Welt, von den Indern bis zu den Indianern, von den Taoisten bis zu den Sufis. Sowohl praktisch als auch theoretisch gibt es Anweisungen, wie sie zu erwecken sind: manchmal durch körperliche Übungen, manchmal über Bildmeditation. Ich habe immer wieder versucht, die gemeinsamen Nenner herausrauszuschälen, aber es schien mir nicht möglich, sie alle in einer Synthese zu vereinen.
Da hatte ich nun neulich einen Traum. Er kam auf die abends gestellte Frage, wie ich mich dem Problemkreis nähern sollte. Ich sah meinen Körper zwischen vier kugelhaften Gebilden, von denen drei farbig, das hintere aber schwarz war. Ich verstand, dass es mein Fehler gewesen war, nach europäischer Manier den Zusammenhang zweifältig zu begreifen, während er nur vierfältig zu verstehen ist; denn der Mensch lebt aus seiner Mitte heraus nach vier Richtungen, von denen jede ein bestimmtes Verhältnis zur Welt aufzeigt, und die erst zusammen sein Wesen entfalten können.
Was mag der Sinn der Chakras sein? Da sie erfahrbar und entfaltbar sind, müssen wir zu ihrer Erhellung zuerst einmal auf alle traditionellen Erklärungen verzichten und sie phänomenologisch betrachten, wie sie sich nun einmal darstellen. Zweitens müssen wir begreifen, wozu wir sie überhaupt entfalten sollen; drittens bestimmen, was der Unterschied zwischen einem Menschen mit oder ohne entfalteten Chakras ist, und dann viertens erkunden, wie man aus ihnen heraus dem persönlichen und menschheitlichen Sinn des Lebens näher kommt.
Vielleicht kann uns folgender Einstieg dazu helfen. Der Mensch lebt zwischen Einbildungskraft und Sinneserfahrung, Energie und Materie, Vision und Verkörperung, Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Bilderwelt bestimmt ihn final in seinen Zielsetzungen, die letztlich mit der instinkthaften Steuerung der Tiere vergleichbar sind.
Er kann nun passiv zu einem Durchgangsort der Zielsetzungen werden, wobei sich eine ungreifbare Natur seiner bedient, und er kann bewusster steuernder Mitarbeiter dieses Vorgangs sein.
Nur im letzteren Fall ist er frei und mündig. Wenn es möglich ist, diese Mündigkeit zu erreichen, dann müsste sie sowohl biologisch als auch existentiell ein echtes Entfaltungsziel des Menschen darstellen. Im ersteren Fall wäre sein Leben sinnlos, horizontal aus äußeren Gründen zu begreifen, im zweiten träte die Dimension des Sinnes als Vertikale hinzu. In meiner Geschichte der Denkstile
habe ich die Entfaltung dieser Gedanken durch die Jahrtausende zu schildern versucht, und in den Ars Magna
die Struktur des Rades als Urbild allen Denkens ermittelt. In diesem Buch will ich den Aufbau der Seele in der kosmischen Wirklichkeit bestimmen; wobei nicht ich diesen ergründen und erfinden will über Verifizierung von Hypothesen wie ein systematischer Philosoph, sondern auf die Antwort der Wesen in allen Welten warte. Im gleichen Traum erlebte ich, dass das sinnvolle Leben nur an der Nahtstelle zwischen Wissen und Handeln möglich ist, wenn man das jeweils Neue von Augenblick zu Augenblick als Offenbarung empfängt. So bedeutet dieses Buch für mich einen Schritt über die Kriteriologie hinaus: ich will aus der Wahrheit der Welt den Auftrag erspüren, der sowohl dem Einzelnen als auch der Gattung in der Wassermannzeit Richtlinien zu einem erfüllten Leben geben könnte. So werde ich das Thema angehen, als ob noch niemand je darüber nachgedacht hätte; nur der naiven Einstellung kann sich die Welt so geben, wie sie von uns heute verstanden werden will. Den erfahrungsmäßigen persönlichen Einstieg schildert meine Frau, anschließend meine theoretischen Ausführungen.
21. März 1983 Arnold Keyserling