Schule des Rades
Arnold und Wilhelmine Keyserling
Magie der Chakras
3. Sinn
Sinn ist systemischer Zusammenhang. Der Sinn erfasst die Subjekthaftigkeit. Er ist weder Kraft noch Stoff, sondern Information. Wenn ich ein Telegramm mit den Worten sende: Ankomme morgen sechzehn Uhr Wien Westbahnhof, werde ich abgeholt. Wenn ich die gleichen Buchstaben in willkürlicher Reihenfolge telegraphiere, mit gleicher Energie, geschieht für meinen Sinn nichts. Darum haben die Chinesen als Wort für den Zusammenhang des Menschen mit dem göttlichen Urgrund weder Kraft noch Licht, Yin oder Yang, sondern Tao, den Sinn und den Weg gesetzt. Sinn ist Subjekt als Wesen, Bedeutung als Erscheinung. Ein Mensch ist dann bedeutend, eine Aussage in der Welt, wenn er seinen Sinn systemisch um eine ungreifbare Mitte als Stil geprägt hat. Die Mitte ist immer leer, weil der göttliche Ursprung durch diese eindringt.
Für die Inder ist der Zugang zum göttlichen Ursprung Dharma, die augenblickliche systemische Wesensstruktur aber Karma, das keinen äußeren Einflüssen, sondern nur dem Subjekt selbst sein Sosein verdankt. Dharma ist die jeweilig höchste Potentialität, die der gegebenen Aktualität, der subjektiv verantworteten Wirklichkeit, entspricht. So ist der Mensch für sein Dasein voll verantwortlich; er kann sinnlos und banal dahinvegetieren oder sinnvoll und intensiv leben.
Um sinnvoll zu leben, bedarf es einerseits des Entschlusses und des Vertrauens, dass der Sinn erreichbar ist; andererseits des Wissens, in welcher Weise sich der Sinn aktualisieren lässt. Dieses Wissen ist nicht denkerisch zu erfinden, sondern durch unseren Körper gegeben. Jeder entdeckt es in sich, der mit geeigneten Mitteln danach sucht. Es ist das Wissen der Offenbarung anstelle der Wissenschaft, die Frucht des Baumes des Lebens im Unterschied von der Frucht des Baumes der strategischen Erkenntnis.
In jeder Generation haben Menschen dieses Wissen für sich erreicht, zu keiner Epoche war es verborgen. Doch oft war die Macht in den Händen jener, die das Wissen nicht hatten und die anderen zwangen, im Verborgenen zu leben. Darum wurde das Wissen esoterisch verschlüsselt und nur Eingeweihten zugänglich gemacht; oder es blieb in der Hand weniger hoher Priester, die nur das preisgaben, was nach den Verhältnissen und Lebensformen der Menschen möglich war. Immer wieder geschah es, dass die Eingeweihten selbst machthungrig wurden und der innere Kern einer Religion verdarb, während die äußere Form erhalten blieb; die Beamten hatten die Macht der Propheten und Mystiker, der Wissenden abgelöst.
In der Bhagavad Gita
spricht Krishna: immer, wenn das Wissen verloren geht, taucht die göttliche Botschaft in neuer Form auf, die damit verpflichtend wird, hinter diese Form braucht man nicht zurückzugehen. So haben Propheten immer wieder die Zeitrechnung verwandelt, mit ihrer Botschaft ein neues Aion begründen wollen; selbst die französische Revolution hat dies ohne religiöse Rechtfertigung versucht und musste daher scheitern.
Aber alle prophetische Geschichte hat ihren Ursprung in der menschlichen Geschichte, die erst heute in ihrer Fülle zugänglich geworden ist. Sie erweist sich als aus der Struktur des Bewusstseins vorgegeben. Wenn wir Sinn als Bezug auf ein menschliches oder göttliches Subjekt betrachten, so ist die Zeit einer der Träger des Sinnes: es gilt sie vom Subjekt her zu verstehen.
Sprachlich ist der Sinn der innere Zusammenhang eines Satzes, einer Aussage, das Ungreifbare ist. Der Himmel ist blau
ist ein Urteil, wird integriert; das Gegenteil der Aussage ist in dem Augenblick, wenn das Urteil der Wirklichkeit entspricht, falsch, und es gibt keine dritte Möglichkeit. Der blaue Himmel
dagegen ist ein Begriff, kein Urteil, hat mit Sinn nichts zu tun.
Frege hat gezeigt, dass jeder sinnvolle Satz sich in einen Ist-Satz, eine prädikative Aussage, verwandeln lässt. So ist das grammatikalische Subjekt des Satzes immer das Sein, die intensive Verknüpfung der Sinneselemente und damit der Zusammenhang mit dem göttlichen Ursprung.
Wahr und falsch sind keine Gegensätze wie gut und böse oder schön und häßlich: was wahr ist, ist sinnvoll, und fügt sich zum bestehenden Wissen hinzu. Was falsch ist, fällt davon ab; falsche Aussagen lassen sich nicht integrieren.
So ist der erste Schritt zum sinnvollen Leben sprachlich die Unterscheidung von Meinung und verstandenem Wissen, in der vorsokratischen Philosophie Doxa und Episteme; der Mensch muss sich auf das beschränken, was er wirklich weiß. Von dem allein aus kann er wählen und wollen, ja und nein sagen, die auch keinen Gegensatz bedeuten; denn jedes gewählte Ja ist gleichzeitig Nein gegenüber allem Nichtgewählten.
Die Grundlage des bewussten Gewahrwerdens ist der dauernde Wechsel zwischen Beobachtung und Erinnerung, der sich im vorderen Teil des Großhirns vollzieht, wo die Inder das innere Auge lokalisierten. Immer ist es gleichzeitig Ja und Nein: Ja zur Erinnerung heißt Nein zur Beobachtung. Ja zum Beobachten heißt Nein zum Erinnern. Dieser Wechsel prägt das Bewusstwerden, ist sein vitaler Grund, der der Fähigkeit des Sinneserfassens und Sinnesschaffens im Denken gegenübersteht. Der Wer ist jener, der aus diesem ewigen Wechsel dessen Niederschlag im Denken in ein Was verwandelt: Wissen ist inhaltliches, Wollen, formales Subjekt des Menschen.
Der Sinn der Sprache liegt im Urteilen. Der Sinn der Zeit dagegen in der Dauer und der Sinn des Raumes im Finden der Mitte des Bewusstseinsfeldes. Ja und Nein ist immer Sinn; daher wohl das Wort Christi: Deine Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein; was darüber ist, das ist von Übel. Aber um zu diesem Ja und Nein durchzudringen, ganz im Entscheiden zu leben, bedarf es dreier Vorausbedingungen:
- der Verwandlung von Meinung in Wissen im Denken;
- dem Lösen aus allen Abhängigkeiten in der Zeit durch Finden der persönlichen und gemeinschaftlichen, menschheitlichen Dauer;
- dem Entsagen aller Bestimmtheit durch andere Menschen und Umstände im Raum.
Geklärtes sprachliches Wissen, Dauer und Finden der Mitte sind existentiell durch Initiation, durch Mut zugänglich, denkerisch aber durch Wissen. Mut kann man nicht vermitteln, auch der Weg des Wissens verlangt diesen. Aber durch echtes Wissen kann man Hindernisse beseitigen, die für den mutig Wollenden Umwege verursachen und die manchmal eine ganze Existenz hindurch dauern können.
So gibt es auch zwei Formen des Lehrens: das Lehren im Rahmen einer Systematik wie etwa der im Augenblick gültigen physikalischen Vorstellungen, das als Ziel eine Strategie hat; und das Lehren der Art und Weise, wie man die innere Leere, das Nichts erreichen kann, um mit Gott vereint zu werden. Für dieses letztere Lehren sprach Sokrates von Anamnese, Aufdecken der vorbewussten Struktur des Menschen und Maieutik, der Hilfe zur zweiten Geburt. Don Juan nennt es den Lehrer und Wohltäter als Vater und Mutter des Durchbruchs aus der Blase der Wahrnehmung, und der indische Guru ist jener, der die Hindernisse beseitigt, nicht aber hilft. Dieses zweite Lehren verlangt Erkenntnis des Wissens hinter dem Wissen und damit der Kriterien des menschlichen Bewusstseins und der Welt: der Weltgrammatik, die allen kulturellen und religiösen Formen in ähnlichem Sinne zugrunde liegt wie die Schreibmaschine einem Roman, der mit ihrer Hilfe verfasst wurde. So müssen wir zur Erkenntnis der Chakras die Kriterien der Dauer in der Zeit, der Befreiung im Raum und des Sinnes in der Sprache bestimmen.
Das Kind erlernt die Sprache aus seinem Ursprung spielerisch ohne Schwierigkeit. Der Erwachsene bemüht sich um Erlernen der sozialen Verwirklichung, bis er die lokale Kultur meistert. Die zweite Geburt ist jenseits dieser Kultur, sie bildet menschheitlich die Matrix für den Einzelnen, um zu seinem Sinn zu gelangen. Hierzu gilt es die physiologische Struktur zu bestimmen, die dem Bewusstwerden zugrunde liegt.