Schule des Rades

Arnold und Wilhelmine Keyserling

Magie der Chakras

4. Gemüt

Gemüt hieß in der deutschen Philosophie die Gesamtheit der Komponenten des Gewahrwerdens. Das Gemüt hat Stimmungen, es kann richtig oder falsch gestimmt, verstimmt sein. Bin ich verstimmt, dann kann ich den Sinn meiner Lebensmelodie nicht spielen. Habe ich dagegen meine Grundstimmung, und ist diese auf die Stimmungen anderer geeicht, dann finde ich meine Bestimmung: sie bedeutet die freie Wahl der Lebensmelodie im Verein mit anderen und damit den Sinn des Lebens.

Für Kant erfloß diese Urstimmung aus dem Denken, aus der Erkenntnis, und er beschränkte sie auf den Gliederbau der Vernunft. So musste er alsbald seine Kritik der reinen Vernunft durch jene der praktischen Vernunft, der Maximen des Handelns ergänzen, und schließlich durch die Kritik der Urteilskraft abrunden. Sowohl die Phänomenologie als auch die Geschichte blieben seinem Ansatz verschlossen. Durch die Bewusstseinsforschung der letzten Jahrzehnte ist es aber möglich geworden, die Fülle der Komponenten zu erkennen und damit von der einzelnen Grundstimmung, der zufälligen Kombination der Elemente bei einem Menschen, zur Urstimmung durchzustoßen.
Das menschliche Gehirn als physische Grundlage des Bewusstseins weist zwischen Geburt und Tod sieben Komponenten auf, die dem Gewahrwerden zugänglich sind: vier zeithafte Funktionen und drei raumhafte Bereiche.
Der Körper wird erfahrbar durch das Stammhirn mit Rückenmark und Kleinhirn, welches die Bewegungsabläufe koordiniert.

Die Seele als personales Gefüge hat ihren Schwerpunkt im Zwischenhirn, im limbischen System. Es enthält die beiden Parameter der Wiederholung der Lust und der Vermeidung von Schmerz, ferner unbedingte Reflexe und offene Programme, die nur zu bestimmten Zeitpunkten des Daseins entfaltet werden können. Der Geist hat seinen Schwerpunkt im kortikalen System. Er ist der Zugang zum Licht und enthält alle Vorstellungstätigkeit, von der denkerisch geschaffenen Vorstellung wie der Bildung eines Dreiecks über die freie Phantasie des Einfalls und die gebundene des Traumes bis zur Welt des Imaginalen, dem Gewahrwerden des ganzen All.

Das Subjekt des Gewahrwerdens ist der göttliche Ursprung selbst, in dessen Teilhabe das Leben auf der Erde sich vollzieht. Im embryonalen Zustand des Schlafes wie im nachtodlichen Zustand, der durch den Traum zugänglich wird, steht das Gewahrwerden den Bereichen Geist, Seele und Körper gegenüber; im wachen Leben muss es zum Subjekt werden. So bleibt der Mensch in den Bereichen immer Kreatur. Er ist nicht Schöpfer sondern Empfänger, wobei das Göttliche sowohl den Zugang zum Nichts als auch zum All bestimmt.

Das Göttliche ist im Nichts und im All, ist überall und nirgends. Die Teilhabe des Nichts führt zur Fülle, doch die Fülle kann nur durch die Leere aufgenommen werden. In diesem erreichbaren Zustand der Urstimmung west der Mensch in der Freude. So ist die Vereinigung mit Gott nicht ein Strebensziel, sondern der Ursprung allen Gewahrwerdens. Sie wird nicht durch Bemühung erreicht, sondern durch Lassen, durch die Haltung des Empfangens.

Jeder der Bereiche Geist, Seele und Körper ist vierfältig gegliedert, wobei die Gehirnstruktur gegensätzlich zu den Körperregionen steht.
Die linke Großhirnhemisphäre zusammen mit der rechten Körperhälfte bestimmt das Verhältnis zum Empfinden der Wirklichkeit durch die Sinne. Durch sie erfährt der Mensch die Zeit; Vergangenheit ist nicht mehr, Zukunft ist noch nicht, und er bildet in der Gegenwart den Schnittpunkt zwischen Zukunft und Vergangenheit. Die physiologische Grundlage der Zeiterfahrung ist durch das Ohr, den Sinn des Hörens gegeben.

Die rechte Großhirnhemisphäre zusammen mit der linken Körperhälfte bestimmt das Verhältnis zu den Trieben des Fühlens. Während die sinnliche Wirklichkeit objektiv als gegeben wahrgenommen wird, unterliegt man den Trieben des Fühlens, den Motiven: ich habe nicht Hunger, sondern Hunger hat mich. Die rechte Hemisphäre bestimmt die Vision des Raumes, ihre physiologische Grundlage ist das Auge, der Sinn des Sehens.

Das Sehen ordnet die Erfahrung um eine Mitte, wie die Struktur des Auges zeigt, und schafft gleichsam lesend die Grundlage aller Orientierung. Das äußere Sehen wird nur durch Verwandlung der Strahlungsenergie in elektrochemische wahrnehmbar; das innere Sehen der Vorstellung, des Traumes und des Imaginalen ist unmittelbares Erleben einer Möglichkeit, die in sich den Keim zur Vollendung trägt; jede Vision weist auf ihre mögliche Erfüllung.

So zeigen links und rechts die Einordnung des Gewahrwerdens zwischen Himmel und Erde, Licht und Kraft. Der göttliche Ursprung fügt im Akt der Schöpfung beide immer wieder zusammen. Dieser Akt wird im empfangenden Wollen bewusst: im Entscheiden und Entschließen, in der Wahl der Potentialität, der Macht des Augenblicks, die man sich zurechnet. So ist das Wollen die Kraft des Entscheidens und Entschließens und nur im Einklang mit deM göttlichen Ursprung Wesen schaffend. Sein Ort ist im inneren Auge des Vorderhirns, das nicht organisch, sondern funktionell im Sekundenrhythmus der Erde rechts und links zusammenfügt. Die Aufmerksamkeit als Teilhabe am göttlichen Ursprung wechselt jede Sekunde zwischen linearer Beobachtung links im Großhirn und kreisförmiger Erinnerung in der rechten Hemisphäre.

Das Wesen des Menschen wird im Denken aktualisiert, das in der hinteren Gehirnregion über die Fähigkeit der Sprache und des Gedächtnisses Licht und Kraft, Bild und Ton, Anschauung und Begriff, Geometrie und Arithmetik zusammenfügt. Im Denken wird der Mensch ewig von weniger zu mehr, wobei der aufgenommene Bewusstseinsinhalt — die Vereinigung der Wahrnehmung von Urlicht und Urkraft — als Sinn Teil des Wesens wird und den Menschen zur Mitarbeit an der Schöpfung auf einer gewissen Kompetenzhöhe befähigt.

Empfinden, denken, fühlen, wollen, Körper, Seele und Geist sind die sieben Komponenten des Gewahrwerdens und der Aufmerksamkeit. Die Sinne sind sowohl auf Erden als auch im Paradies Träger des Erlebens. Nur über ihre Urstimmung kann der Mensch daher seine Gottähnlichkeit erreichen und die Blase der Wahrnehmung, die Kugel der Reflexion sprengen. Das Denken ist hierbei der Ansatz. Im Denken verhärtet sich der ichverhaftete Mensch in seinen Reflexionen, seiner Selbstbeschau in der ewigen Wiederholung, die in den prophetischen Religionen als Hölle bestimmt wurde, als Ort totalen Unglücks. Aber im hingebenden Denken wird er zum Mitarbeiter der Schöpfung und erreicht die Heiligkeit gleich Gott in der bewussten Vereinigung von Urkraft und Urlicht.

So ist der Mensch konzentrisch-zentripetal, von Yang her gesehen, Körper Seele und Geist. Hier ist Gott die Mitte gleich der Mitte der Erde, Punkt der nullten Dimension. Vom Yin her gesehen zentrifugal ist er vierfältig der Welt zugewandt: über die Sinne des Empfindens — links im Großhirn, rechts im Körper — der zeithaften Wirklichkeit, über die Triebe des Fühlens — rechts im Großhirn links im Körper — der raumhaften Möglichkeit. Über das innere Wort, das kommunikative Denken hinten im Gehirn zur Aktualität und zum Mitmenschen, und über das Wollen, vorne im Gehirn als Vereinigung von links und rechts zur Potentialität und zu Gott. Drei ist die Zahl der Bereiche, weil Gott außerhalb ihrer west. Vier ist die Zahl der Funktionen. Beide zusammen bilden die Grundlage der Chakras und des Rades. Im Nacheinander der Linie, auf die Erdachse bezogen, sind sie siebenfältig; das Achte ist gleichzeitig in der Erdmitte und im unendlichen All. Als Rahmen des Wesens und der Grundstimmung sind sie zwölffältig und entstehen als Vereinigung von Bereichen und Funktionen zum Urbild der Vision aller menschlichen Vollendung, des Menschen im All, im Rad. Die Chakras verbinden die geistige Energie mit der irdischen Materie und bilden sieben Verbindungsstellen, die es zu unterscheiden gilt. Zum theoretischen Verständnis werden wir ihre indischen Namen den Funktionen und Bereichen noch einmal gleichsetzen:

7
6
5
4
3
2
1
Fontanelle
inneres Auge
Nacken
Herz
Nabel
Sakrum
Perineum
Sahasrara
Ajna
Vishuddha
Anahata
Manipura
Swaddhistana
Muladhara
Geist
Seele
Körper
wollen
fühlen
denken
empfinden

Empfinden ist die erste Funktion, die durch unassoziative Wahrnehmung geweckt wird. Es gilt die Sinnesdaten als solche wahrzunehmen: Farben und Formen, Gerüche, Töne und Worte, Geschmäcker und Tastbarkeiten. Gewöhnlich ist dieses Chakra durch das Denken verstellt, indem der Mensch nur das wahrnimmt, was er gewohnt ist; so entsteht Angst. Diese gilt es in Wachsamkeit zu verwandeln, um zu bemerken, was tatsächlich geschieht, gleich wie das Tier die Sinneswahrnehmung zur Beobachtung einsetzt; die falsche Angst weicht der Wachsamkeit. Muladhara heißt Wurzelchakra: die Empfindung ist die einzige Beziehung zur Wirklichkeit; die anderen Funktionen und Bereiche bedienen sich ihrer Stofflichkeit oder Bildhaftigkeit.

Denken ist die zweite Funktion; der indische Name des Chakras ist Swaddhistana, heißt auf sich selbst bezogen. Dies ist das Ich, das, anstelle im Kopf zu sein und die Welt durch eine Vorstellung zu verdoppeln, in die Bewegungsmitte des Leibes gehört: man muss Programme und Erfahrungen in Strategien verwandeln. Hier ist die zu überschreitende Schwelle das Gedächtnis mit seiner Neigung, alles Neue auf Bekanntes zurückzuführen und sich damit vergangenem Wissen anzuvertrauen. Jede Strategie ist nur bestimmten Umständen angemessen; daher verlangt die Entfaltung dieses Chakras, sich auf die Elemente des Denkens zu beschränken und falscher Synthesen zu entsagen; nur so erreicht man die Klarheit.

Alle Klarheit beruht letztlich auf Erfahrung und Wissen, das aus der Wirklichkeit kommt. Mit dem dritten Chakra des Fühlens, Manipura, wird die Welt der Vision und der Wünsche zugänglich, aus der der Mensch über die rechte Hemisphäre seine Richtung, Zielsetzung und Motivation erlebt. Jeder Wunsch erfüllt sich notwendig, echt oder analog, früher oder später. Wer so weit zum Zeugen, dem wahren Subjekt jenseits der Träume vordringt, dass er seine Wünsche gleichmütig betrachtet, ohne sich über positive zu freuen und wegen negativer zu verachten — die beiden Gefahren des Chakras sind Selbstmitleid und Selbstkritik — findet die Wurzeln seiner Macht. Es gelingt ihm, die Potenzen hinter den Visionen als Helfer zu begreifen und zu integrieren. Dadurch erlangt er echte Macht über sich und auch anderer, da er deren Motive versteht und sie darüber lenken kann.

Manipura heißt Stadt der Juwelen. In der indischen Tradition wird vor diesem Chakra gewarnt. Es gibt kaum jemanden, der dem Machttrieb nicht zum Opfer fällt, wenn er sich plötzlich auf seine Wünsche verlassen kann und auch andere aus ihrem Unterbewussten zu lenken vermag. Doch alles falsche Machtstreben beruht auf seelischer Abhängigkeit: man glaubt sich frei, da andere einem folgen, ist aber an diese genauso gekettet wie sie an einen selbst. Das vierte Chakra des Wollens, Anahata beim Herzen, bedeutet hinter alle Rhythmen zu treten, den Organismus gleich einem Tänzer zu beherrschen, ganz zum Ausdruck des Wesens und des göttlichen Auftrags zu gestalten. Nur das innere Schweigen kann dazu führen, wenn das Wollen wirklich aus dem Einklang mit allem kommt. Es gibt einen falschen Einklang der Gewohnheit, der Trägheit, und diese ist nach Don Juan der letzte Feind des Menschen auf dem Weg zur Befreiung. Wer die Trägheit überwindet, ist imstande, das Tor zu den Bereichen zu öffnen und diese zu integrieren.

Das fünfte Chakra Vishuddha am Hals verlangt die Anerkennung der Körperlichkeit nach deren eigenem Gesetz. Der Körper ist im Tiefschlaf ganz er selbst. So ist es notwendig, hier die Ruhe zu erreichen, die Stille, auf dass die Verspannungen gelöst werden und der Mensch die Reinheit des embryonalen Lebens wiederfindet, wo er an die Ursprünge seiner Vitalität herankommt. Der Körper ist unser Abenteuer, er birgt alle Möglichkeiten dieses Lebens. Wenn er in seinem Sosein verstanden wird und keine angelernten Bewegungen im Sinne bedingter Reflexe ihn hindern, jede Handlung aus der Bewegungsmitte aus anzugehen, wird der Mensch aus seinem Karma befreit, steht zu sich selbst und findet seine Erfüllung.

Das sechste Chakra, Ajna, das innere Auge, bedeutet Gehorsam und Disziplin. Die Seele, getragen aus dem limbischen System mit dem Gegensatz von Lust und Schmerz, gut und böse, kann nur im Lehren und Lernen angejocht werden. Wer nicht zur Schau der anderen Wesen durchstößt — der Menschen, Tiere, Pflanzen und Geister, dem bleibt der Zugang verschlossen, und er irrt von Wiedergeburt zu Wiedergeburt, eingebunden in die Folge der Generationen. Erst wenn er zum Geist, zur wahren Vision seiner Aufgabe durchstößt und die körperlichen Motivationen in spirituelle Intentionen verwandelt, dann ist er zum Dharma befreit.

Die Seele zwischen Körper und Geist, das Denken zwischen Empfinden und Fühlen und das Wollen zwischen Körper und Fühlen sind die aktiv zu aktualisierenden Chakras; Empfinden, Fühlen, Körper und Geist sind dagegen objektive Gegebenheiten, die es zu akzeptieren gilt.

Die Kraft der Integration wird als Kundalini, als dreieinhalbmal geringelte Schlange beschrieben, die am Fuße der Wirbelsäule schläft. Sie gilt es zu erwecken, um Geist und Körper, Ida und Pingala, Mond und Sonne mit der Erde, der Senkrechten im Sushumna zu vereinen. Wem dies gelingt, der erreicht den Körper der Auferstehung bereits im Leben und kann schon hier Einblick in die paradiesische Welt gewinnen.

Die Chakras sind Wirbel im Luftkörper des Menschen, im Denkleib. Deshalb sind sie durch Töne zu aktivieren. Doch nur wenn sie auf die Vision der Vollendung gerichtet bleiben, können sie integriert werden. Aus dem Bewusstsein der Senkrechten der Chakras entsteht die Raumerfahrung und damit die Himmelsrichtungen, die den Lichtkreis als Sphäre der Offenbarung eröffnen, aus dem der Große Mensch sich im Tonkreis der Zeit verkörpern kann.

Die Erde ist linksläufig, der Himmel rechtsläufig. Die Reihenfolge der Chakras geht von der Erde aus; daher stehen diese in einem Verhältnis zu den Himmelsrichtungen des Raumes und sind im Nacheinander zu aktivieren.
In der ganzen Breite des Ostens geht der Himmel auf: dies ist der Ort des Gewahrwerdens, wo der Mensch seinen Sinn aus dem kosmischen Sein empfängt. Die Kraft Gottes wird zum Licht, zur Vision.
Im Westen geht der Himmel unter, das Licht wird zur Kraft. Dies ist der Ort des Wollens; nur aus empfangener Vorstellung lässt sich die Welt bewegen und verwandeln.
Im Süden, am Mittag, erblickt man alle Wesen im Lichte der Sonne: dies ist der Ort der Seele, des Vertrauens und der Unschuld und des Wachstums.
Im Norden der Mitternacht kreist der Nachthimmel der entkörperten Wesen um den Polarstern. Dies ist der Ort der Integration, der Weisheit des Denkens.
Zu den vier primären Raumrichtungen treten die sekundären, die aus der Vereinigung je zweier primärer geboren werden. Osten und Süden, Gewahrwerden der Seelen, eröffnet den Zugang zu den Geistern, die zu Botschaftern, zu Engeln werden.

Seele und Wollen, Licht, das seine Macht findet, schafft seinen Körper zwischen Süden und Westen im Südwesten. Wollen vereint mit dem Denken im Nordwesten sucht das Gleichgewicht des Organismus zu wahren, die Wünsche zu befriedigen: es ist der Ort des Fühlens.
Denken vereint mit dem Gewahrwerden, Norden mit Osten, erkennt die Einzeldinge in Raum und Zeit als Elemente des Wirklichen: dies ist der Ort des Empfindens im Nordosten.
Das Verhältnis der irdischen und himmlischen Ordnung der Chakras wird durch das Hakenkreuz veranschaulicht:

S w a s t i k a

Linear sind die Chakras nach oben und unten offen, nach der Erde durch das Empfinden der Kraft, nach dem Himmel durch den Geist zum Licht. Himmel und Erde werden vereint im göttlichen Urgrund. Daher ist der lineare Ort der Chakras im Rad zwischen Erdmitte und Ostpunkt, weil nur das Gewahrwerden beide vereint; die Kraft der Aufmerksamkeit, das innere Licht, bildet die einzige konkrete Gotteserfahrung in der körperlichen Welt.

Arnold und Wilhelmine Keyserling
Magie der Chakras · 1983
Urstimmung des Gemüts
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD