Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Französische und deutsche Aufklärung

Als erstes erkannten die Franzosen die Bedeutung seiner Schlussfolgerungen. Rousseau begab sich nach England unter Humes Schutz, da er die gleichen Ideen zu vertreten glaubte. Die Freundschaft der entgegengesetzt gearteten Männer schlug aber in Feindschaft um; Rousseau glaubte sich von ihm verraten und verfolgt. In England wurden die humeschen Gedanken von der schottischen common-sense-Schule angegriffen. In Frankreich dagegen wirkten sie als Befreiung aus dem dogmatischen Rationalismus und führten zu drei neuen Richtungen: den Irrationalisten, den Enzyklopädisten und den Materialisten.

Jean-Jacques Rousseau, 1712-1778, wurde berühmt durch seine Bekenntnisse, in denen er Augustin nacheiferte, und durch seinen Roman Emile, dessen zentrale Thematik, das Bekenntnis des savoyardischen Landpfarrers, zum Ideal der französischen Aufklärung wurde. Er hatte verschiedene Leitideen, denen er sein Denken unterordnete: die Ideale Freiheit und Gleichheit, Unsterblichkeit, Gott und die Tugend. Am bekanntesten wurde sein Schlagwort zurück zur Natur. Die abendländische Tradition in Denken und Verfassung betrachtete er als Irrweg; der Mensch müsse zum Naturzustand des guten Willens zurückkehren, der durch die Zivilisation überdeckt ist; dann ergebe sich als freier Vertrag zwischen den Menschen die richtige Gesellschaftsordnung von selbst. In dieser ist die Unterscheidung wesentlich zwischen der volonté générale und der volonté de tous: nur diejenigen Menschen, die zu ihrem ursprünglichen Willen durchgestoßen sind, sollten Vertreter der Volkssouveränität, der volonté générale sein. Diesen Willen zu wecken sei die Hauptaufgabe der Erziehung.

Helvetius, 1715-1771, stimmte mit Rousseau in der Wertung der Erziehung überein. Er vertrat die Ansicht, dass die Menschen notwendig Egoisten seien; dass Streben nach Lust allein die Triebfeder aller Willensakte und Handlungen, auch solcher der Nächstenliebe und Gerechtigkeit darstelle. Die Verschiedenheit der Menschen rühre lediglich von den Lebensumständen her, besonders von der Erziehung. Im Gegensatz zu Rousseau, der nach Revolution strebte, wollte er jedoch die Staatsgesetze reformieren, um durch angemessene Strafen und Belohnungen den menschlichen Egoismus in den Dienst des öffentlichen Wohls zu stellen.

Der einflussreichste Geist der französischen Aufklärung war Voltaire, 1694-1778. Sein Werk schloss einerseits an den Kritizismus Pierre Bayles an und war andrerseits der Popularisierung der englischen Philosophie gewidmet: der newtonschen Lehre, und besonders der skeptischen Richtung von David Hume.

Den mechanischen Materialismus vertraten Julien de Lamettrie, 1709 bis 1751, und Baron Dietrich von Holbach, 1723-1789. Der Glaube an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit wurde von ihnen als unheilvoller Irrtum bekämpft, von der kartesischen Zweiteilung in Geist und Materie hielten sie nur den materiellen Pol für wirklich. Eine von der Natur verschiedene Gottheit existiere nicht, Materie und Bewegung seien ewig. Die Religion sei ein Hemmnis der Sittlichkeit, indem sie die Menschen fanatisch mache und entzweie. Eine immaterielle Seele gebe es nicht; Unsterblichkeit könne der Mensch nur im Gedächtnis der kommenden Geschlechter finden.

Étienne Bonnot de Condillac, 1714-1780, fußte auf der humeschen Erkenntnislehre, die er als Sensismus bezeichnete, wollte aber den Begriff einer inneren Erfahrung, die Hume als möglich anerkannte, zugunsten der Sinnesdaten und ihrer Assoziation ausschalten. Die Enzyklopädisten Denis Diderot, 1713-1784, und der Mathematiker Jean d’Alembert, 1717-1783, bekannten sich dagegen wiederum zum Materialismus. Sie betrachteten es als ihre philosophische Aufgabe, alles Wissen ohne systematischen Zusammenhang nach Stichworten zu ordnen, aus denen sich der Einzelne frei das Notwendige zum Gebrauch auswählen könne. Als einzige Synthese erkannte der Naturphilosoph Buffon, 1707-1788, den Stilbegriff: Le style c’est l’homme.

Allen französischen Aufklärern war das Bestreben gemeinsam, ein moralisches demokratisches Staatswesen vom Individuum her aufzubauen. Charles de Montesquieu, 1689-1755, schrieb ein Loblied auf die lockesche Staatsverfassung und arbeitete sie konkret aus; so bildete die philosophische Rezeption des Empirismus zusammen mit den Herrschaftsbestrebungen der Freimaurer und dem Kampf des arrivierten Bürgertums gegen Aristokratie und Königsherrschaft die Voraussetzung zur Französischen Revolution von 1789, in der die Vernunft endgültig zur Herrscherin erklärt wurde.

In Deutschland herrschte weiterhin unbeschränkt die leibnizsche Philosophie in der vereinfachten systematischen Fassung, die ihr von Christian Wolff, 1679-1754, verliehen worden war. Dieser hatte versucht, sie mit dem Aristotelismus zu verschmelzen, indem er den Satz vom zureichenden Grunde auf den Satz vom Widerspruch zurückführte. Sein System wurde in den meisten Universitäten gelehrt. Nur in der Pädagogik kamen die französischen Vorstellungen der natürlichen Güte des Menschen etwa im Werke Pestalozzis zum Ausdruck, ebenso in der Literatur. Hier wirkte im Sinne der Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing, 1729-1781, ferner Moses Mendelssohn, 1729-1786, die beide für religiöse und staatliche Toleranz eintraten. Doch die wesentliche Umkehr des deutschen Denkens war das Werk Immanuel Kant, mit dem der Rationalismus seine Vollendung fand.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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