Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Karl Marx

Französische Soziologie, englische Nationalökonomie und deutscher Idealismus sind die drei Wurzeln, aus denen Karl Marx, 1818-1883, mit seinem Freund Friedrich Engels, 1820-1895, die hegelsche Dialektik zum dialektischen Materialismus umformte. Dessen Ziel formulierten sie folgendermaßen: Frühere Philosophen hätten sich darauf beschränkt, die Welt zu interpretieren; ihnen käme es aber darauf an, sie zu verändern.

1836 kam Marx mit achtzehn Jahren auf die Berliner Universität und widmete sich sofort dem Studium der hegelschen Lehren. Binnen kurzem wurde er im Kreis der Junghegelianer zu einer führenden Figur. Hegel war für ihn Kant und Fichte überlegen, weil es ihm gelungen sei, die Trennung von Sein und Sollen in der Dialektik zu überwinden. Deren Spaltung bildete für ihn das typische Merkmal des Idealismus, den er mit Kant und Fichte identifizierte. Er schilderte dies in folgendem Vers:

Kant und Fichte gern zum Äther schweifen,
suchen dort ein fernes Land.
Doch ich such’ nur tüchtig zu begreifen,
was ich — auf der Straße fand.

Marx sah in Hegel von Anfang an jenen Gedanken, der auch Feuerbach so beschäftigt hatte, nämlich dass der Mensch Gott sei. Deshalb schlug er auch seinen Freunden vor, man solle Hegel einen Atheisten nennen. Diese These wurde zum Ansatz der marxistischen Philosophie:

wenn der Gottesbegriff eine Vorwegnahme der menschlichen Entwicklung ist, dann muss mit seiner Überwindung alle falsche Religion mit den auf ihr gebauten Institutionen aus der Gesellschaft verschwinden.

Wesentlich für Marx wurde die Begegnung mit Feuerbach. Dessen Schrift erklärte er als Lehre, durch die jeder Philosoph als Katharsis hindurch müsse; der Mensch muss das, was er aus sich entwickelt hat, als transzendente Gottesvorstellung wieder in sich hineinnehmen. Marx verkündete:

Und euch, ihr spekulativen Theologen und Philosophen, rate ich, macht euch frei von Begriffen und Vorurteilen der bisherigen spekulativen Philosophie, wenn ihr zu den Dingen, wie sie sind, das heißt zur Wahrheit kommen wollt. Und es gibt keinen anderen Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit als durch den Feuer-Bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart!

Das menschliche Schaffen, die schöpferische Tätigkeit bildet die echte Unendlichkeit im Menschen, durch die er aus seiner leiblich-statischen Endlichkeit erlöst ist. Feuerbach beschrieb dies in folgenden Worten.

Der Begriff der Tätigkeit, des Machens, Schaffens, ist an und für sich ein göttlicher Begriff; er wird daher unbedenklich auf Gott angewandt. Im Tun fühlt sich der Mensch frei, unbeschränkt, glücklich, im Leiden beschränkt, bedrückt, unglücklich. Tätigkeit ist positives Selbstgefühl. Die glücklichste, seligste Tätigkeit ist jedoch die produzierende. Lesen zum Beispiel ist köstlich; aber Lesenswürdiges schaffen noch köstlicher.

Der Mensch verlegt im Gottesbegriff seine eigene Schöpfungsmacht in eine Vorstellung; er entfremdet sich seiner selbst im religiösen Denken. Bei Feuerbach sollte diese Wandlung nur im menschlichen Bewusstsein erfolgen; der Mensch müsse sich seines wahren tätigen Subjekts erinnern. Doch dies kann er nur dann, wenn er die Welt selbst in sein Gestaltungsfeld verwandelt: der wahre dialektische Gegenpol des schöpferischen Menschen ist für Marx nicht eine Gottesvorstellung, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit, die es ihm dank ihrer Verfassung unmöglich macht, sich selbst zu verwirklichen.

Erkenntniskritisch bewies Marx seine These durch eine neue Interpretation des untersten Begriffes im kantischen Schema, der Sinnlichkeit: Empfindung ist nicht nur rein aufnehmend, sondern auch gestaltend, also immer dialektisch. Der wahrnehmende Mensch wird verwandelt, ja dieses verwandelt-Werden über die Zunahme an Wissen — welche Verwandlung gleichzeitig auch immer in eine Verwandlung der äußeren Wirklichkeit mündet — ist der Ausgangspunkt allen Denkens. Gestalten und Wahrnehmen sind eins. Nicht der Mensch bringt die Wirklichkeit hervor — dies im Gegensatz zu Fichte und Hegel, aber im Anschluss an Feuerbach — sondern die vorgefundene Wirklichkeit prägt das menschliche Sein.

Auch Feuerbach war Marx in seiner Dialektik nicht radikal genug. Die Umkehr vom feuerbachschen Denken zum eigentlich marxistischen zeigt sich in Marxens Kritik an dieser: für die Selbstentfremdung sei die Lage in der tatsächlichen Menschenwelt, also nicht die objektive Natur verantwortlich; sie gelte es zu verwandeln, auf dass der Unmensch zum Menschen werde. So seien anstelle der Religion die gesellschaftlichen, geschichtlich gewordenen Umstände zu verändern. Daher gelte es, im Übergang von der theoretischen in die praktische Philosophie Feuerbach zu überwinden:

Es ist zunächst die Aufgabe der Philosophie, die im Dienste der Geschichte steht, nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich in eine Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.

In diesem Denken äußert sich Marxens Wendung von der Anthropologie zur Politik. Fortan fasste er die Geschichte als eine Schilderung auf, wie der Mensch die Welt erzeugt und sich dabei verliert und entfremdet. Diejenigen nun, welche als objektive Wesen, als Arbeiter noch an der echten Unendlichkeit teilhaben, werden durch die Bürger, die sich mit dem statischen Kapital und der Klassenstruktur des Eigentums identifizieren, daran gehindert, sich schöpferisch zu entfalten. Daher müssten sich die besitzlosen Proletarier vereinen, um in der Weltrevolution die Besitzer zu enterben und so von Objekten der Herrschaft zu deren Subjekten aufzusteigen, die allein ihre Schöpferkraft zur Erfüllung ihrer Menschwerdung einsetzen und alle ihre Begabungen verwirklichen könnten.

Die Diktatur des Proletariats als Ergebnis der Weltrevolution ist ein Übergang. Aus ihr soll sich dann das neue Stadium der Menschheit, der wahre Kommunismus entwickeln, wo der französische Leitspruch jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinen Bedürfnissen seine Verwirklichung findet und der alte Staat abstirbt. Die kommunistische Gesellschaft sei aber nicht ein selbstverständliches Ergebnis der geschichtlichen Notwendigkeit, sondern die Folge der bewusst unternommenen Weltrevolution, über deren furchtbaren und unmenschlichen Charakter sich Marx sehr wohl im klaren war und die sich nur mit der schreckhaften Vorstellung des Jüngsten Gerichts vergleichen lässt: sie werde die klassenlose Gesellschaft gebären, in der jeder Mensch sich gemäß seiner Anlagen verwirklichen könnte. So gliedert sich das marxistische Geschichtsdenken nach den augustinischen Stufen:

Augustin
1. Paradies
2. Sündenfall
3. der Erlöser
4. das Jüngste Gericht
5. das Neue Jerusalem
Marx
Primitiv-Kommunismus
Beginn des Privateigentums
der Arbeiter
die Weltrevolution
die klassenlose Gesellschaft

Die Wandlung vom anthropologischen zum politischen Standpunkt vollzog Marx mit der Veröffentlichung der Deutschen Ideologie 1846 in folgendem Satz: In der revolutionären Aktion fällt die Veränderung des Selbst mit der Veränderung der Umstände zusammen. Und weiter heißt es im kommunistischen Manifest: Das Kapital ist also keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht. Marx wandte sich fortan gegen seine eigenen früheren Interpretationen und lehnte ihre Veröffentlichung ab. Er erklärte sich in Gegensatz zur französischen Soziologie, die vom Einzelnen ausgeht, der keiner Klasse, überhaupt nicht der Wirklichkeit, sondern nur dem Denken der philosophischen Phantasie angehört. So gibt es nicht mehr den Menschen, es gibt nur noch Klassen. Diesen Übergang zeigt besonders klar folgende Stelle aus dem Buch Die Heilige Familie:

Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht, und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.

Den wesentlichen Grundbegriff seiner neuen Lehre fand Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie, die er mit Engels 1845-46 schrieb:

Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein des Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Gesellschaftliches Sein wird für Marx der Pol der Unendlichkeit in der menschlichen Dialektik. Der marxische Materialismus hat nichts mit dem mechanischen der französischen Aufklärung zu tun; er ist, wie Marx es später formulierte, Dialektischer Materialismus.

Die Synthese aller marxischen Bestrebungen brachte sein Hauptwerk Das Kapital, das 1857 erschien. Sein ursprünglich theologischer Charakter zeigt sich in folgendem Satz:

Mit der Möglichkeit, die Ware als Tauschwert, oder den Tauschwert als Ware festzuhalten, erwachte schon die Goldgier — die moderne Gesellschaft, die schon in ihren Kindesjahren den Plutus aus den Eingeweiden der Welt herauszieht, begrüßt im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigenen Lebensprinzips.

Marx weiß sich also eins im Kampf mit den jüdischen Propheten gegen den Kult des Goldenen Kalbes; doch nicht im Namen des transzendenten Gottes, sondern der Menschwerdung. Das Buch behandelt theoretisch die Ökonomie; in Wirklichkeit steht es im Dienste einer Eschatologie, der Verkündigung einer neuen Zeit. Band eins schließt mit der revolutionären These:

Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt; die Expropriateure werden expropriiert. Es ist die Negation der Negation.

Das Kapital, das Gold, ist zum allgemeinen Fetisch geworden. Es wird entthront, indem der Erzeuger allen Wertes, der Arbeiter sich als Träger der Erzeugung versteht. Der Reichtum des Kapitalisten beruht auf dem Mehrwert, dem Geld, das ihm nach Abzug der Herstellungskosten und Lohnkosten verbleibt. Wird er des Mehrwerts beraubt und geht dieser in Gemeinschaftseigentum über — vor allem der Besitz an den Produktionsmitteln — so wird die Voraussetzung für die kommunistische Gesellschaft geschaffen sein.

Solange das Kapital den Mehrwert verschlingt, ist es unersättlich. Marx beruft sich hier auf die aristotelische Unterscheidung zwischen Ökonomie als der Kunst, Dinge für den Gebrauch herzustellen und Chrematistik als der Kunst, reich zu werden. Der Reichtum, den die Chrematistik anstrebt, findet kein Ende. Dies ist die falsche entmenschende Unendlichkeit des Kapitals, das nach unbegrenzter Akkumulation strebt. Marx drückte es folgendermaßen aus:

Indem der Kapitalist Geld in Waren verwandelt, die als Stoffbildner eines neuen Produktes oder als Faktoren des Arbeitsprozesses dienen, indem er ihrer toten Gegenwart lebendige Arbeit einverleibt, verwandelt er Wert, die vergangene, vergegenständlichte tote Arbeit in Kapital, sich selbstverwertenden Wert, ein beseeltes Ungeheuer, das zu arbeiten beginnt, als hätte es Lieb im Leibe.

Fassen wir nun die marxischen Gedanken dialektisch in seinem Schema, so ergibt sich folgende Ordnung:

  1. These ist der Primitivkommunismus.
  2. Antithese ist das Privateigentum.
  3. Erste Synthese: Der Arbeiter erkennt sich als Wertschaffender und erlebt den Bürger als Gegensatz, der für seine Entfremdung verantwortlich ist.
  4. In der Weltrevolution wird diese Antithese vernichtet und die Diktatur des Proletariats hergestellt. Das hegelsche Fürsichsein offenbart sich als das menschliche gesellschaftliche Sein, das im Gegensatz zur anonymen Macht des Kapitals steht.
  5. Das gesellschaftliche Sein vereint im Kommunismus Administration und Arbeit, da die Arbeit zum Hauptkennzeichen des modernen Menschen geworden ist.

Hier kommt nun ein neues Problem, das Marx in seiner Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie angeschnitten hat, von dem er aber glaubte, dass es durch die Kommunisten als Träger des echten Fürsichseins, als Negation der Negation zu überwinden ist, der Gegensatz zwischen Arbeiter und Bürokratie:

Die Bürokratie ist der imaginäre Staat neben dem reellen Staat, der Spiritualismus des Staates. Jedes Ding hat daher eine doppelte Bedeutung, eine reelle und eine bürokratische… Das reelle Wesen wird aber behandelt nach seinem bürokratischen Wesen, nach seinem jenseitigen spirituellen Wesen. Die Bürokratie hat das Staatswesen, das spirituelle Wesen der Gesellschaft in ihrem Besitz, es ist ihr Privateigentum. Der allgemeine Geist der Bürokratie ist das Geheimnis, das Mysterium, innerhalb ihrer selbst durch die Hierarchie, nach außen als geschlossene Korporation gewahrt.

Hegel hatte gemeint, es könne doch jeder Mitglied der Korporation werden. Darauf Marx-Engels:

Diese Möglichkeit jedes Bürgers, Staatsbeamter zu werden, ist also das zweite affirmative Verhältnis zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, die zweite Identität. Sie ist von sehr oberflächlicher und dualistischer Natur. Jeder Katholik hat die Möglichkeit, Priester zu werden (das heißt, sich von den Laien der Welt zu trennen). Steht darum weniger das Pfaffentum den Katholiken als jenseitige Macht gegenüber? Dass jeder die Möglichkeit hat, das Recht einer anderen Sphäre zu erwerben, beweist nur, dass seine eigene Sphäre nicht die Wirklichkeit dieses Rechtes ist.

Und in folgender Weise sehen Marx-Engels die Überwindung dieses falschen Gegensatzes:

Die Aufhebung der Demokratie kann nur sein, dass das allgemeine Interesse wirklich und nicht, wie bei Hegel, bloß in Gedanken, in der Abstraktion zum besonderen Interesse wird, was nur dadurch möglich ist, dass das besondere Interesse wirklich zum allgemeinen wird.

Wie soll aber in der Diktatur des Proletariats, wo die kommunistische Partei als aktiver Träger der Weltrevolution notwendig eine Minderheit ist, dieser falsche Gegensatz sich nicht auswirken? Wie soll das besondere Interesse zum allgemeinen werden? Diese Antwort ist der heutige marxistisch-leninistische Kommunismus immer noch schuldig geblieben. Partei und Staat sind in hohem Maß identisch, und das besondere Interesse, also die Verwirklichung des Einzelnen, ist darin unberücksichtigt.

Die marxistische Philosophie unterscheidet sich wesentlich von der Ökonomie als Wissenschaft. Wissenschaft bedeutet objektive Beschreibung, Marxismus hingegen strebt die Verwandlung des Menschen, seine Befreiung aus der Entfremdung an. Aus dieser Zielsetzung konstellierte er im weiteren Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts die zwei möglichen soziologischen Gegenbewegungen: den biologisch betonten Nationalsozialismus und den soziologischen Individualismus. Bevor wir uns diesen beiden letzteren zuwenden, müssen wir die weitere Entwicklung der Wissenschaft der Soziologie in Frankreich besprechen.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD