Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

1. Das kosmische Denken

Weltenjahr

Die Kategorien des kosmischen Denkens haben intuitiv am Anfang der Geschichte die Gesamtheit der Entwicklung umfasst; bis der einzelne Mensch zu diesen Erkenntnissen durchdringen und sein Leben aus ihnen gestalten konnte, war eine lange Entwicklung notwendig; erst unsere Zeit kann die kritische Begründung des damals Geahnten bringen. Die Tradition gibt die Erklärung, dass Menschen im Zustand des wahren Bewusstseins das ganze Wissen gleich einem Spiegel besitzen, und somit vieles einschließen, was die reflektierende Vernunft sich erst spät erarbeitet. So bedeutet die Geistesgeschichte nicht ein langsames Anhäufen von Erkenntnissen, sondern Klärung einer ursprünglichen Schau; denn mehr als die Totalität der Erfahrung ist nicht zu erreichen; und diese muss zu Bewusstsein kommen, wenn der Mensch die Mitte seines Wesens in der Art erreicht, dass sowohl der eigene Organismus als auch die äußere Wirklichkeit Gegenstand der Betrachtung werden. Hieraus erklärt sich auch, warum dem Zustand der Kontemplation noch im Mittelalter ein so großer Wert zugestanden wurde: nicht als Entwicklungsziel am Ende eines langen Weges, sondern als wahres Bewusstsein wurde sie verstanden, das nicht durch Entfaltung, sondern durch Läuterung — also durch Freilegen des Wesenskerns — erreicht wird; der früher erwähnte Vollzug der Wandlung von homo faber zu homo sapiens.

Dies Ziel bezog sich aber nicht so sehr auf den Einzelnen — der persönliche Lebenskreis wurde in seiner Bedeutung als Horoskop erst im vierten vorchristlichen Jahrhundert einbezogen — sondern auf die Menschheit als Gattung; sie unterliegt einer aufsteigenden Ordnung, die sich aber rückläufig zum Jahreskreis, also gleich dem Sonnenlauf im Tageskreis bewegt und ihren Ursprung im Mondzeichen Krebs, ihr Ziel im Sonnenzeichen Löwe hat — deren Rahmen durch die Präzession des Frühlingspunktes durch den Tierkreis gegeben ist.

Astronomisch lässt sich diese Präzession auf die vereinte Schwerkraftwirkung von Sonne und Mond zurückführen; die verlängerte Erdachse beschreibt im Sternbild des Drachen einen Kreis um den Pol der Ekliptik.

P r ä z e s s i o n

Der Frühlingspunkt verschiebt sich rückläufig in 72 Jahren um einen Grad, in 2.160 Jahren um ein Zeichen, und kehrt nach 25.920 Jahren wieder zum Ausgangspunkt zurück. Diese Präzession bildete nun den bewussten Rahmen aller Geschichtsbetrachtung der Vorzeit bis in die Antike und besteht unterschwellig in verschiedenen Religions­gemein­schaften bis auf den heutigen Tag fort.

P o l · d e r · E k l i p t i k

Die genaue Berechnung der Präzession und damit die Einteilung des Tierkreises in 360° wurde in Vorderasien wohl erst in Babylon im dritten vorchristlichen Jahrhundert erkannt und bestimmt; doch der Wandel des Frühlingspunktes durch die Konstellationen bildete von Anfang an das Schema des Zeitrahmens der Menschheitsentwicklung.

Löwe galt als Sitz der Sonne, Krebs als Sitz des Mondes. Der Mond symbolisiert die Einbildungskraft und die Traumwelt, die Sonne den Wesenskern und das Wachbewusstsein; die Vereinigung von Wachen und Träumen ist der Sinn der Menschheitsgeschichte. So hat diese im kosmischen Denken einen Ursprung und ein Ende; sie begann vor etwa zehntausend Jahren, als der Frühlingspunkt aus der Konstellation Löwe in den Krebs eintrat — biblisch als Verlassen des Paradieses mit dem Essen vom Baum der Erkenntnis dargestellt, und wird sich in etwa siebzehntausend Jahren vollenden, wenn der Frühlingspunkt wieder das Ende dieser Konstellation erreicht hat — wenn der Mensch dereinst Traumwelt und Wachwelt, das naturhafte Leben mit dem geistigen vereint, oder biblisch ausgedrückt, am Baum des Lebens ebenfalls teilhaben wird. So gliedert sich die Weltgeschichte der kosmischen Perioden rückläufig zum Jahreskreis; fünf von ihnen, die Krebszeit, die Zwillingszeit, Stierzeit, Widderzeit und die Fischezeit sind bereits verflossen; heute stehen wir am Beginn der Wassermannzeit; der Übergang ins sechste Zeichen wurde am 5. Februar 1962 vollzogen.

H o r o s k o p - d e s - B e g i n n s - d e r - W a s s e r m a n n z e i t

Alle 2.160 Jahre wechselt das kosmische Leitbild und Koordinatensystem, und dieser Wechsel drückt sich sowohl im Stil der Religion und der Kunst als auch des Denkens und des Lebens aus; und dies in viel besserer und eindeutigerer Weise als in der archäologischen Gliederung nach benützten Werkzeugen oder Metallen. Wir werden im Folgenden die Perioden in einer Gegenüberstellung der Haupttraditionen verdeutlichen, wobei der biblische Mythos die klarste Unterscheidung ermöglicht. Da es sich um die Geschichte der Menschheit als Gattung handelt, wandelt sich in jeder Periode das Gemeinschaftsideal:

1)
2)
3)
4)
5)
6)
8840 v. Chr.
6680 v. Chr.
4520 v. Chr.
2360 v. Chr.
200 v. Chr.
1962 n. Chr.
Krebszeit
Zwillingszeit
Stierzeit
Widderzeit
Fischezeit
Wassermannzeit
Seele-fühlen
Geist-denken
Körper-empfinden
Seele-wollen
Geist-fühlen
Körper-denken
Famile
Stamm
Stadt
Volk
Reich, Kirche
Menschheit

W e l t e n j a h r

Der Beginn der Krebszeit — um etwa 8900 v. Chr. — wird in der Bibel im Mythos von Adam und Eva als Vertreibung aus dem Paradies, der Löwezeit des vorigen Weltenjahres dargestellt. Dieses wird fortan gemäß den vier kosmischen Hauptsymbolen von vier Erzengeln bewacht, deren hebräischer Name ihre Bedeutung erkennen lässt: sie sind Michael als Adler-Skorpion, Raphael als Löwe, Gabriel als Stier und Uriel als Wassermann.

  • Michael mit dem Adler bedeutet die Prüfung. Sein Name heißt: Wer ist Gott? Dieser Name kann auf zweierlei Weise verstanden werden: einerseits als Warnung vor der Anmaßung, andrerseits aber, dass nur der Mensch, der die Gottesebenbildlichkeit erreicht, den Zugang zum Heil findet.
  • Raphael, der Erzengel des Löwen, heißt Gott heilt. Krankheit entsteht durch Abspaltung aus dem ursprünglichen Leben, durch Verlust der Ganzheit; ihr Wiedergewinn — der ursprüngliche Sinn der Heilung — bildet das zweite Tor des Paradieses.
  • Gabriel mit dem Symbol des Stiers vertritt das Wort Gottes, wie er auch später den Propheten Mohammed inspirieren sollte; er bedeutet den Zugang zum Heil über die religiöse Tradition, über das Verständnis der Offenbarung.

Doch auch die Offenbarung hat einen Ursprung, und dieser Ursprung bedeutet das Tor zum Jenseits, das mysterium tremendum, den Zugang zur Möglichkeit, aus welcher die Wirklichkeit entspringt:

  • Uriel im Wassermann als die Verbindung von Himmel und Erde heißt: das Licht Gottes; es bestimmt den Weg desjenigen Menschen, der aus himmlisch-geistigem Wissen die Welt befruchtet.

Die vier Erzengel verhinderten mit flammendem Schwert die Rückkehr des Menschen ins Paradies und bezeichneten den Beginn des Weges, der dereinst wieder zu ihm zurückführen soll. Die erste kosmische Periode, die Krebszeit, bedeutet nun die Gründung der patriarchalischen Familie im Gegensatz zur tierischen Promiskuität, den Beginn von Ackerbau und Viehzucht. Ihr Anfang ist aber auch mit dem Erleben der Urspannung zwischen Heilsstreben und Triebhaftigkeit gekennzeichnet. Die Triebhaftigkeit, die den Menschen an die Erde bindet, gehört der Gattung zu, für die das Individuum nur ein Glied in der Kette darstellt. Diese Spannung wurde dargestellt im Mythos von der verführenden Schlange als Symbol der Geschlechtlichkeit.

Der biblische Mythos erwähnt nur Teile der Überlieferung aus der adamitischen Zeit. Doch gibt es Stämme, vor allem in Australien und Afrika, deren mentale Entwicklung bei dieser Denkweise stehen blieb und die uns daher genauen Aufschluss zu geben vermögen. Oberste Gottheit ist der Mond als Sinnbild der großen Mutter. Die Traumbewusstheit verbindet die Welt der Lebenden und der Toten. Wachwelt, Geschichte und Mythos werden der Einbildungskraft, der Traumwelt untergeordnet. Vor einer Jagd z. B. wird im sogenannten Jagdzauber das Geschehen genau durchgespielt: von dieser Genauigkeit machen afrikanische Stämme den späteren Erfolg abhängig. Im Traum erlebte Verbrechen werden von der Gemeinschaft geahndet, als ob sie wirklich stattgefunden hätten. Die Lehre von der Wiederverkörperung scheint der Wesenszug dieser Mentalität zu sein; so glauben laut Andreas Lommel manche australische Urstämme, dass sich der Großvater immer im Enkel verkörpert. Sonnenlauf und Mondlauf werden mit einem Mythos vom sterbenden und auferstehenden Gott im Jahreskreis identifiziert, welche Überlieferung in verwandelter Form bis zu den ägyptischen Osiris-Isis-Mythen, den eleusinischen Mysterien, ja selbst bis zum Kirchenjahr reicht.

Der erste Gegensatz besteht zwischen Mann und Frau: der Mann strebt von Natur aus nach dem geistigen Heil, die Frau nach dem irdischen Wohl der Familie. Als nächstes tritt aber in der Verschärfung der Gegensatz zwischen Kain und Abel, dem Bauern und dem Jäger hinzu: Kain tötete Abel, weil er ihn in engerem Kontakt mit Gott glaubte, und brachte damit den Krieg; doch waren er und seine Sippe gleichzeitig die Erfinder aller Zivilisation, von der Baukunst und der Musik bis zu den Geräten als Beginn der Technik. Abels Stamm wurde in Seth fortgeführt; so berichtet die Bibel die Spaltung des Menschen nach Naturhaftigkeit und Geistigkeit, deren Vereinigung erst in der Zwillingszeit in den Vordergrund der religiösen Bemühungen kommen sollte.

Mit der Krebszeit begann die Ordnung der Vorstellungswelt nach den kosmischen Raum-Zeit-Koordinaten. Die Bibel, einer viel späteren Epoche des mythischen Denkens zugehörig, erwähnt diese Tatsache nur im Buch Henoch, dem Erfinder der Astronomie gewidmet, welcher nach 365 Jahren Lebenszeit — also nach Erfüllung der Jahresentsprechung — als erster lebendig in den Himmel aufgenommen wurde, während Adam, Eva, Kain, Abel, Seth und die folgenden Geschlechter dem Totenreich verhaftet blieben.

Die Spannung zwischen dem naturhaften und zivilisierten Menschen, und wohl auch zwischen homo faber und homo sapiens, schritt immer weiter fort, und am Ende der Krebszeit — gegen 6200 v. Chr. — fand laut übereinstimmenden Mythen auf der ganzen Erde die große Flut statt; nach neuesten Forschungen war sie hervorgerufen durch den Fall eines Planetoiden von ungefähr 700 km Durchmesser in den Atlantischen Ozean, von welchem laut ägyptischer Überlieferung, von der Platon im sechsten vorchristlichen Jahrhundert erfuhr, die damals am weitesten fortgeschrittene Zivilisation der Atlantis zerstört wurde. Nur wenige Menschen entkamen ihr; teils weil sie, wie griechische, amerikanische und chinesische Mythen berichten, sich auf die höchsten Gipfel gerettet hatten, nachdem ihnen das bevorstehende Unglück in Wahrträumen mitgeteilt wurden. So baute der babylonische Utnapischtim, identisch mit dem biblischen Noah, eine Arche, in der von jeglichem Lebewesen ein Paar untergebracht werden sollte; also ein Zeichen, dass diese Überlebenden den Zusammenhang mit der Natur nicht verloren hatten. Nach der Flut begann langsam eine Neubesiedlung der Erde; den Gott des alten Testaments reute seine Tat, und so schloss er mit dem Patriarchen Noah den alten Bund, den er mit dem Naturphänomen, dem siebenfarbigen Regenbogen bekräftigte. Ähnliche Überlieferungen finden sich auch in den anderen Kulturkreisen.

Wie aus der adamitischen Periode bringt die Bibel auch aus der Noah-Zeit nur wenige Daten, da sie ganz in der Symbolik der späten Widderzeit verfasst wurde. Die Koordinaten des kosmischen Denkens der Zwillingszeit, welche bis nach Feuerland und Tasmanien verbreitet sind, bringen andere Überlieferungen in klarerer Fassung: es handelt sich um die bewusste Anstrengung, den sterblichen Menschen mit dem unsterblichen Heros oder Gott zu vereinen.

Am bekanntesten sind die griechischen Zwillingsmythen von Kastor und Pollux, von Prometheus, der für die Menschen von den Göttern das Feuer stahl und dem naturgewaltigen Epimetheus, und von Herakles, der sich mit seinen zwölf Arbeiten von der Blutschuld entsühnte. Doch hier ist der Zwilling ganz in den Hintergrund getreten; am klarsten findet sich der Weg dieser zwei im westasiatisch-babylonisch-assyrischen Mythos von Gilgamesch und Enkidu, wenn dieser auch bereits chronologisch in die Stierzeit unter die Herrschaft der Stiergöttin Ischtar — (Venus) verlegt wurde.

Diese Verlegung oder Neuinterpretation der Vergangenheit in den Kategorien einer neuen Epoche unter Ablehnung der früheren ist ein wesentliches Kennzeichen des kosmischen Denkens. Da Menschen immer an vergangenen Formen festhalten wollen, geht es selten ohne Auseinandersetzung ab; man denke nur an die Verdammung der Hure Babylon — des Ischtarkultes — oder des ägyptischen Stierkultes als goldenes Kalb durch Israel, oder wiederum die Verfolgung der Juden als Widdervolk in den letzten zweitausend Jahren der Fischezeit. Dennoch bringt das Gilgamesch Epos die Wesenszüge der Zwillingszeit in verhältnismäßig reiner Form: der Weg zur Unsterblichkeit führt über das bewusste Durchschreiten von zwölf Stadien. Bei Herakles werden diese später als Arbeiten bezeichnet; bei Gilgamesch waren es hingegen Heldentaten, deren Sinn die Erlösung des erdhaften Menschen Enkidu, dem Kameraden Gilgamesch darstellen sollte, die aber nicht gelang.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
1. Das kosmische Denken
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD