Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Pragmatismus und Instrumentalismus

Während die marxistische Dialektik die Materie als Erzeuger der Wirklichkeit betrachtet, also eigentlich den realistischen Standpunkt des Universalienstreites in neuer Form bezogen hat, war der empirische Rationalismus eine Weiterentwicklung des nominalistischen Standpunktes. In der Evolutionslehre Herbert Spencers, 1820-1903, hatte er sich mit dem Darwinismus gepaart, dessen Bedeutung wir im ganzheitlichen Denken besprechen werden. Doch seine wesentliche soziologische Entfaltung sollte er durch zwei amerikanische Denker erfahren, mit denen er sich über den Pragmatismus zum Instrumentalismus verwandelte: William James, 1842-1910 und John Dewey, 1859-1952, beide aus Neuengland.

Die entscheidende These von William James lautete, dass das menschliche Bewusstsein nicht eine statische Substanz sei, wie es der Dualismus von Mind and Matter behauptete, sondern ein dynamischer Vorgang. Selbst das Wort Bewusstsein sei falsch, da es eine beharrende Einheit postuliere. Gegeben sei nur die ursprüngliche Vielfalt der Erlebnisse, die sowohl die Gedanken als auch die äußere Erfahrung einschließt.

Die reine Erfahrung befinde sich in stetem Wandel. Dieser Flux sei es — also ein heraklitischer Standpunkt — welcher allen persönlichen Erlebnissen und auch der Wirklichkeit zugrunde liege.

Wie verhält sich nun der Mensch in dieser Wirklichkeit, um wahrhaftig zu leben? Richtiges Verhalten, so erklärt James, bedeutet Irrtümer zu vermeiden und der Wahrheit zu folgen. Wahr sei aber nur dasjenige, was gute Ergebnisse bringt. Um die Handlungen auf ihre Wahrheit zu prüfen, gelte es daher, ihre möglichen Ergebnisse im Voraus zu bestimmen: sind sie gut, dann ist die Handlung richtig und wahr; sind sie schlecht, dann wäre die Handlung falsch und zu vermeiden. Dies führt zu einer skeptischen Haltung gegenüber der Wahrheit, die damit relativ wird. Alle Hypothesen wurden dieser Wertung unterworfen. Man könne nicht über die Vernunft feststellen, ob Gott existiert oder nicht. Doch die Hypothese seiner Existenz führe zu einem besseren Verhalten als ihr Gegenteil: insofern stelle Gott jedenfalls eine psychologische und pragmatische Wahrheit dar, sie besteht den pragmatic test.

Logisch ist die pragmatische Lehre unbefriedigend, da sie binnen kurzem zu Aporien führen muss. Doch praktisch bedeutet sie die gleiche Wandlung aus der Theorie in die Praxis gegenüber der empirischen Philosophie, wie sie der Marxismus gegenüber dem hegelschen Idealismus vollzogen hat: sie gab eine Handhabe, in die Welt einzugreifen, sie im Sinne des Guten zu verwandeln, das nicht mehr statisch, sondern als dynamische Richtung des Verhaltens definiert wurde.

Die Doktrin des Pragmatismus wurde als Instrumentalismus von John Dewey weiterentwickelt. Anstelle des reinen Erfahrungsbegriffs von James setzte er die inquiry, die fragende Forschung. Er definierte den Begriff des Guten im Unterschied zur noch religiösen Bestimmung von James als das Organisierte im Gegensatz zur Unordnung. Leben sei durch Ordnung gekennzeichnet, Sterben durch Verfall. Positiv sei, was sich in der Richtung des Lebens, also der größeren Ordnung im Sinne eines Organismus begreifen lässt.

Hiermit wurde auch die logische Wahrheit mit der pragmatisch-ethischen in Zusammenhang gebracht. Dewey schloss sich der Definition des Logikers Peirce an:

Wahrheit ist die Meinung, welche dazu bestimmt ist, letztendlich von allen Prüfern in Übereinstimmung anerkannt zu werden.

Diese Auffassung folgt aus dem dynamischen Wahrheitsbegriff; übereinstimmende Menschen stellen einen höheren Grad von Gestalt, von Organisation dar als nicht übereinstimmende Individuen. Daher sei die Gruppenbildung auf Grund der Übereinstimmung im Streben nach dem Guten das objektive Ziel der Gemeinschaft, was seine letzte ideale Form in der amerikanischen Vision der Vereinten Nationen gefunden hat.

Um diesem Ziel näher zu kommen, gelte es, der Jugend das dynamische Kriterium des Guten von Anfang an einzuimpfen, auf dass sie sich bei jeder Handlung die pragmatische Frage sofort stelle. Daher richtete Dewey seine Hauptaufmerksamkeit auf eine Reform der Erziehung. Sein Modell wurde in vielen Ländern der westlichen Hemisphäre als maßgebend angenommen.

Es ist offensichtlich, dass die deweysche Richtung eine soziologische Philosophie ist, da sie danach strebt, die Gesellschaft im Sinne einer stärkeren Vergemeinschaftung zu beeinflussen. Mit Watson, McDougall und Ferdinand Canning Scott Schiller wurde der Begriff der reinen Erfahrung des William James im Behaviorismus durch das Verhalten ersetzt: an die Stelle einer ethischen Theorie trat die statistische Gruppenuntersuchung, die Aufschluss darüber zu geben hat, wie sich die Menschen tatsächlich auf allen Gebieten, auch auf dem geschlechtlichen, verhalten. Die wissenschaftliche Soziologie wurde zum Werkzeug dieser Auffassung. Überall traten die Tests in Erscheinung, die Meinung und Verhalten im größtmöglichen Rahmen erforschen wollen, damit das Kriterium des Guten und der positiven Entscheidung sich auf die höchstmögliche Anzahl von Daten stützen könne. Ein ungeheures Material wurde gesammelt, auf Grund dessen der Einzelne dank dreier Kriterien — der wirtschaftlichen Produktivität als Niederschlag der Tätigkeit des Gestaltschaffens, des moralisch Guten im religiösen Sinn und der demokratischen Übereinstimmung auf allen Gebieten — seine Entscheidung im Sinne der amerikanischen Weltauffassung treffen kann.

Amerikanische pragmatische Demokratie und russischer dialektischer Materialismus — zu dem in den Fünfzigerjahren als radikalere Spielart der chinesische Kommunismus maoistischer Prägung trat, der an die Yang-Yin-Philosophie anknüpfte und mehr die Bewusstseinswandlung als die wirtschaftliche Veränderung in den Vordergrund stellte, sind die beiden entscheidenden soziologischen Richtungen der Gegenwart. Zwischen ihnen steht der kulturell gefärbte Nationalismus der sogenannten Dritten Welt. Alle drei sind der Transzendenz gegenüber relativistisch eingestellt. So handelt es sich bei den heutigen soziologischen Philosophien letzten Endes um agnostische Richtungen, ob diese nun bewusst atheistisch sind wie der dialektische Materialismus, deistisch im bloßen Lippenbekenntnis wie der amerikanische Pragmatismus, oder die Erneuerung aus einer Mischung beider Richtungen im Zusammenhang mit der national-religiösen Tradition suchen, wie etwa der agnostische Säkularismus Indiens oder die Baath-Partei in Syrien. Doch auch im transzendenten Bereich hat das soziologische Denken seine Ausprägung gefunden: in der Philosophie des jüdischen Denkers Martin Buber, die sich als echte und tiefe Antithese des deutschen Nationalsozialismus wusste, wie ja auch die Auseinandersetzung zwischen Judentum und Blut-und-Boden-Ideologie im Zweiten Weltkrieg bei weitem die furchtbarste Form angenommen hat.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD