Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Henri Bergson

Henri Bergson wurde 1859 geboren und starb 1941 in Paris. Sein erstes Buch Die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins ähnelte in seinem Ansatz Ernst Mach oder Edmund Husserl. Doch schon in den nächsten Schriften entwickelte sich aus diesem Ansatz eine neue Richtung, die ihn mit der jüdischen Mystik, vor allen Dingen mit der natura naturans des Spinoza verband und in folgender These gipfelte: das Kennzeichen der menschlichen Existenz sei das intensive Erleben der Dauer, im Unterschied zur extensiven mathematischen Zeit, die als echte Dimension des wissenschaftlichen Denkens zu betrachten sei. Dieses Denken sei nur der äußeren materiell-mechanischen Wirklichkeit angepasst. Die Dauer des menschlichen Erlebens erschließt sich nicht dem logischen Denken, das sich in der Veränderung der Gehirnzellen bei Bildung der Reflexbögen in den Neuronenketten eindeutig physiologisch lokalisieren lässt, sondern der lebendigen kontinuierlichen Erinnerung, die vom Gehirn bis zu einem gewissen Grad unabhängig ist. Das Gehirn sei kein Lagerhaus von Erinnerungen, sondern ein Ort der Selektion, in dem nur die Vorstellungen bewusst werden, deren der Mensch zur Bewältigung seiner augenblicklichen Lebensaufgabe bedarf. Von fast Ertrunkenen werde berichtet, dass sie in wenigen Sekunden ihr ganzes Leben vor ihrem geistigen Auge abrollen sahen. Auch könne man in der Hypnose zeigen, dass die Tiefenperson im Menschen die gesamte Lebenserfahrung besitzt. Überdies gibt es klinische Fälle, wo der gleiche Mensch, ein und dasselbe Gehirn abwechselnd von verschiedenen Personen bewohnt zu sein scheint: die Spaltung der Persönlichkeit, die wir im vorigen Kapitel besprachen.

Doch Bergson zieht eine andere Folgerung als die Spiritisten und Animisten aus den Experimenten von Morton Prince: die Annahme der Existenz einer vom Körper unabhängigen Entität sei unausweichlich: sie habe nichts mit dem logisch erkennenden Subjekt von Kant oder dem Ich der Idealisten zu tun, denn sie lasse sich nicht durch Begriffe einfangen. Der Fortschritt ihrer Entwicklung lasse sich nur über die Intuition erfahren, welche die verschiedenen Erlebnisse nach Maßgabe ihrer Intensität in gleicher Weise zu einer Melodie des Sinnes verknüpft, wie das Auge die kinematographischen, in einer gewissen Geschwindigkeit ablaufenden Einzelbilder zu einem geschlossenen Bewegungsvorgang zusammenschließt.

Die Kontinuität findet sich nicht in der Natur, wie dies der Rationalismus und das wissenschaftliche Denken fälschlich bis Max Planck und Ernest Rutherford behauptet hatten, als deren Zeitgenosse Bergson seine Philosophie entwickelte; sie werde von der menschlichen Seele geschaffen. Ursprung dieser Seele sei die schöpferische Energie, der élan vital, eines Sinnes mit der evolutionären Tendenz der Natur oder der natura naturans des Spinoza. Aufgabe des Menschen sei es, im bewusst angestrebten Prozess der Vergeistigung und Läuterung den Lebenstrieb zur höchsten persönlichen Entwicklung als évolution créatrice zu vollenden.

Dem menschlichen Denken, seiner Logik ist nur der anorganische Aspekt der Natur zugänglich. Doch seine Seele hat über die Intuition an ihrer Energie teil, die sich aber im Unterschied zum instinktgesteuerten Tier als énergie spirituelle, als geistige Strebenskraft offenbart. In der Teilhabe an dieser findet er auch den Sinn seines Lebens, den er vergeblich in der Wissenschaft suchen würde; denn das logische Denken ist nur jene Funktion, die den Menschen als Naturwesen der Werkzeugwirklichkeit anpasst, im gleichen Sinne wie die Spinne ihre Netze baut oder der Biber seine Dämme. Seele und Geist, intensive Erinnerung und bewusste Entwicklung sind nur in ihrem eigenen Milieu zu vollenden, der Integration der psychischen Ganzheit. Von dieser her besteht auch kein Bruch mit der religiösen Überlieferung der Menschheit; sie bedeutet in mystischer, prophetischer, mythischer oder magischer Sprache eine Interpretation der gleichen Tatbestände, welche die bergsonsche Philosophie in rationaler Sprache erhellt.

Bergsons Entdeckung der Dauer als Kennzeichen der seelischen Identität, als Voraussetzung ihrer Kontinuität und als Erweis ihrer Unabhängigkeit vom Körper wurde zum Anlass der Entfaltung einer weiteren Denkweise, deren geographisches Zentrum wiederum Wien bildete: der Tiefenpsychologie.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
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