Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Alfred Adler

Alfred Adler, 1870-1937, bestimmte den der Lust entgegenwirkenden Trieb als den Machttrieb und analysierte die Persönlichkeit Freuds selbst aus diesem Gesichtspunkt. Das Überich sei nur so lange negativ, wie es als eine statische Zensurinstanz aufgefasst wird. Hinter ihm verberge sich der Drang nach Erfüllung einer persönlichen Lebenslinie, einer bewussten und geplanten Lebensgestaltung.

Ansatz zu dieser Gestaltung sei aber nicht die Begabung, das leicht sich verwirklichende Talent, sondern der Mangel, das als unvollkommen Erlebte, für das Adler den Ausdruck Minderwertigkeitskomplex prägte. Echte oder vorgestellte Minderwertigkeit sei die Triebfeder aller Entwicklung. Ohne tatsächlichen oder eingebildeten Mangel gäbe es kein Streben: Goethes Produktivität des Unzulänglichen. So wie Demosthenes aus Überwindung seines Lispelns zum größten Redner Athens wurde, ebenso gelte es für jeden Menschen, das in sich als minderwertig Erkannte zum Ansatz der persönlichen Lebenslinie zu ergreifen.

Nicht nur tatsächliche Organminderwertigkeit und vorgestellter Begabungsmangel, sondern auch die sozialen Umstände, vor allem das Familienmilieu schaffen verschiedene Ansätze der Entfaltung. So hat der erste Sohn sich meistens mit dem Vater in positiver oder negativer Form auseinanderzusetzen; beim zweiten Sohn, der unter der doppelten Autorität von Vater und älterem Bruder steht, ist die Beziehung zur Gemeinschaft im Vordergrund. Was immer problematisch ist, müsse als Segen betrachtet werden, da nur aus diesem eine dynamische Persönlichkeit erwachsen könne.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
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