Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Weinfurter - Meyrink

Die Revolution der modernen Kunst der Jahrhundertwende lässt sich in vielen Hinsichten mit der Wandlung des wissenschaftlichen Weltbildes vergleichen. In beiden Fällen ging es darum, alte Begriffe und Synthesen, das perspektivische Weltbild zu vernichten und auf die Elemente selbst, die Farben, Töne und Formen zurückzugehen und ihre möglichen Kombinationen zu erfassen. Kubismus und Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus oder Funktionalismus in Malerei und Dichtung versuchten, das verfälschte bürgerliche Weltbild in die ursprüngliche naive Schau zurückzuführen. Doch in zwei Werken kam das esoterische Anliegen unverfälscht zum Durchbruch: einerseits bei Gustav Meyrink und andrerseits bei Josef Matthias Hauer.

Prag unterschied sich auch noch im endenden neunzehnten Jahrhundert vom übrigen Europa durch die Tatsache, dass die esoterischen Traditionen weiter gepflegt wurden; dass also die hintergründige Welt ebenso Gegenstand des Interesses blieb wie die vordergründige Alltagserfahrung. Nicht ohne Anlass hatte Mme. Blavatsky in ihrer Lehre von den Meistern — Menschen oder Impulse, die die Sphäre der Inspiration beherrschen — den europäischen Meisterimpuls mit Prag identifiziert. Um die Jahrhundertwende hatte sich nun in Prag eine Gruppe gebildet, deren prominenteste Vertreter der tschechische Dichter Weinfurter und Gustav Meyrink, 1868-1932, waren, die nun bewusst, ähnlich den Wahrheitssuchern Gurdjieffs in Asien daran gingen, die esoterischen Überlieferungen nicht wissenschaftlich im Sinne der Spiritisten, sondern experimentell am eigenen Leibe auf das traditionelle Ziel der Erleuchtung hin zu prüfen und durchzuexperimentieren. Nach einiger Zeit — so schrieb Weinfurter in seinem Brennenden Dornbusch — erhielt die Gruppe Führung aus der Wiener christlichen Esoterik, und ihre Mitglieder gelangten zu Erfahrungen, die viele der traditionellen Behauptungen bestätigten.

Während Weinfurter und seine Freunde fortan persönlich den mystischen Weg gingen, setzte sich Meyrink eine andere Aufgabe: nämlich dem größeren Publikum vor der kommenden Weltkatastrophe, die dann kurz nach seinem Tode 1932 mit der erwarteten Schärfe, wenn auch weniger spektakulär als vermutet hereinbrach, die Verbundenheit der jenseitigen mit der diesseitigen Welt sowohl in ihren tiefen als auch in ihren abstrusen und absurden Ausdrücken zu zeigen. Jedes seiner Bücher hatte einen anderen der traditionellen Wege zum Gegenstand: der Golem den kabbalistischen Weg, der Engel vom westlichen Fenster den alchemistischen, Der weiße Dominikaner den christlich-esoterischen, die Walpurgisnacht den magischen und Das grüne Gesicht den prophetischen Weg. Seine Novellensammlung Des deutschen Spießers Wunderhorn zeigte die Wechselbezüge zwischen oberflächlicher Dummheit und einerseits falschem Okkultismus, andrerseits echten Einsichten in der Mischung, wie sie tatsächlich das zeitgenössische Leben bestimmte. Die kleine Novelle Der Uhrmacher schilderte seinen im Traum geschauten eigenen Weg, der genau der Tradition mit ihren zwölf Schritten und sieben Stufen entspricht, wie wir sie immer wieder im Lauf der Geschichte kennen gelernt haben.

Meyrinks Werk war nicht ein literarisches, sondern ein prophetisches Anliegen: er wollte seinen Zeitgenossen die Wirklichkeit des Jenseits nicht in Form einer Predigt, sondern eines absurden Erlebens, einer Doppelgründigkeit ähnlich wie Kafka darstellen, sie an- und aufregen, damit der durch die Aufklärung vollzogene Bruch zwischen Todeswelt und Lebenswelt überwunden werde. Sein Roman Das grüne Gesicht schließt mit den Worten, die auch das Motto seines Lebens sein könnten: Er war hüben und drüben ein lebendiger Mensch.

Gurdjieff wollte den Menschen durch Arbeit an sich selbst dazu bringen, die neue Bewusstseinslage zu erreichen, in welcher allein der Mensch der technischen Zivilisation gewachsen ist; Meyrink versuchte in der Phantasie Diesseits und Jenseits so zusammenzuschließen, dass beide Welten für seine Leser unbemerkt wieder zusammenflossen.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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