Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Hermann Keyserling

Der dritte Kulturphilosoph, Hermann Keyserling, 1880-1946, aus Livland gebürtig, war ursprünglich Geologe und wandte sich unter dem Einfluss Chamberlains der Philosophie zu. Der Ausgangspunkt seines Denkens war einerseits die Mathematik und Weltrhythmik, die später von Hauer geforderte Gleichsetzung von Zahl und Musik als Grundlage einer philosophischen Mathematik, die er in seinem Gefüge der Welt 1905 entwickelte, andrerseits der perspektivische Ansatz seiner Prolegomena der Naturphilosophie: nur eine Vielzahl von Gesichtspunkten sei befähigt, die Ganzheit der Erfahrung zu erfassen. Wie man etwa ein Pferd vom anatomischen, physiologischen und biologischen Blickwinkel betrachten könne und jeder andere Erkenntnisse vermittle, so müsse man in jedem Fall eine Mehrzahl von Koordinaten annehmen, um der Wirklichkeit ganzheitlich gerecht zu werden. Die wesentliche Anwendung dieser Auffassung brachte sein Reisetagebuch eines Philosophen, das unter dem Motto erschien: Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum. Nicht das Allgemeine, also die abstrakte Systematik, sondern der Einzelne sei der Gegenpol des Universellen. Daher gelte es zur Entfaltung der Persönlichkeit diese mit der Gesamtheit der menschlichen Kulturschöpfungen zu konfrontieren, und zwar nicht mit deren formalem Grund, sondern ihren lebendigen, geschichtlich gewordenen Gestalten, wie sie sich nun einmal entwickelt haben.

Auf Grund dieses Buches wurde Hermann Keyserling nach Verlust seiner Güter in der Folge der russischen Revolution vom Großherzog von Hessen eingeladen, die Erkenntnisse des Reisetagebuchs in einer Institution fruchtbar werden zu lassen, die dann 1920 als Schule der Weisheit in Darmstadt eröffnet wurde. Ihr Ziel war die Vorbereitung der Menschheitsökumene, insofern ausschließliche Richtungen vom persönlichen Standpunkt ihrer Vertreter in den Tagungen von 1920 bis 1927 unter Generalthemen wie Gesetz und Freiheit, Weltanschauung und Lebensgestaltung, Mensch und Erde zu Wort kamen, um im Zuschauer das Bild der geistigen Einheit des Planeten aufscheinen zu lassen. Nicht nur die verschiedenen Bekenntnisse wie Katholizismus und Protestantismus, Islam und Buddhismus, sondern auch die soziologischen und wissenschaftlichen Standpunkte vieler der bisher zitierten Persönlichkeiten wie Jung, Frobenius, Scheler und Driesch kamen dabei zur Erörterung. Ihr Ziel war nicht eine Wissensvermehrung — eine Diskussion der Standpunkte wurde abgelehnt — sondern die Vereinigung von geistigem Wachstum und seelischer Läuterung als Neuverknüpfung von Geist und Seele.

Voraussetzung dieser Neuverknüpfung war nun die Erkenntnis der Kulturen als Verwirklichungsfeld des persönlichen Geistes in der Relativierung ihres Eigenwertes. Der Durchbruch zu dieser Auffassung gelang Hermann Keyserling unter dem Eindruck Südamerikas 1929 in seinen Südamerikanische Meditationen. Jede Kultur lässt sich als besondere Verknüpfung von vier Koordinaten bestimmen: einer Triebgrundlage, die er mit dem spanischen Wort Gana, blinder Lebenswille, bezeichnete; die Delicadeza als Ordnung der Empfindungen, die er als eigenen Bereich etablierte; ferner die rationale Ordnung, die sowohl das intellektuelle Leben als auch die Ordnung der Gesellschaft im soziologischen Sinne bezeichnet, und schließlich die emotionale Ordnung, die auf den Gefühlsbeziehungen beruht. Jedes Volk stellt sich nun als ein bestimmtes Verhältnis dieser vier Komponenten dar, die je nach Geschichte und Landschaft in anderer Gewichtsverteilung und Kombination auftreten.

Gana
Wollen
Delicadeza
Empfinden




emotionale Ordnung
Fühlen
rationale Ordnung
Denken

In sich hat keine Kultur einen substantiellen Wert; die heutigen Franzosen halten aus den gleichen Gründen an ihrer literarischen Kultur fest wie die Kanaken am Kannibalismus: aus Gewohnheit. So gelte es, den entscheidenden Punkt in der Kultur zu bestimmen, wodurch diese sich aus der Trägheit in die Freiheit erheben kann. Dies ist der Einbruch des Geistes, der die blinde Lebenskraft erleuchte, wie es im Bibelspruch Es werde Licht zum Ausdruck kam.

Die zähflüssige Gana birgt in sich die Welt des Mythos, das Tor zur möglichen Überwindung des Todes. Kennzeichen des unerlösten Menschen sei Die Traurigkeit der Kreatur, Kennzeichen des befreiten die Freudigkeit. Der Aufstieg von der Traurigkeit zur Freudigkeit führt nicht über die emotionale, rationale oder Delicadeza-Ordnung, sondern nur über die zwei Urausdrücke des Geistes im befreiten Wollen: den Mut und den Glauben; Glaube als Selbstbehauptung des Geistes, und Mut im sich Stellen der Wirklichkeit, auf dass diese in ihrer Ganzheit zum Feld der Bewährung werde.

In seinen Werken über Europa und Nordamerika versuchte Hermann Keyserling die Vorstellung eines objektiven Werts der einzelnen Kulturen zu zerstören und ihren bloßen Materialcharakter aufzudecken. Kein Volk verkörpere einen Wert, jeder nationale Hochmut sei nicht nur ein Widersinn, sondern führe den Menschen in immer tiefere Verstrickung in die Trägheit der Gana. Gewohnheit sei der eine Feind geistiger Entfaltung. Das innere Wachstum verlange vom Menschen, jedes Ereignis als Anlass zur Selbstverwirklichung zu erkennen. Auch die gestalteten Religionen gehören der Welt der Verhärtung zu. Niemals ist im Buchstaben der Sinn, sondern es gilt diesen von Fall zu Fall durch aktive Sinngebung zu erwecken.

Aus dieser Einstellung wandte sich der Philosoph anschließend in den Dreißigerjahren den persönlichen Problemen zu, um auch hier eine Richtigstellung der Bezeichnungen im konfuzianischen Sinn vorzunehmen: es gelte jegliche Gestaltung und Bildung aus ihrer Eigenform zu lösen, aus der traditionellen Wertung zu befreien und sie in das Feld der Bewährung zu stellen, ganz im gleichen Sinne wie das 13. Kapitel der Bhagavad Gita die irdische Existenz bestimmte.

Wissenschaftliche Wahrheit gehört immer der Ebene der Buchstaben zu. Es gelte aber nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern die gesamte Erfahrung in das Weltalphabet zu verwandeln, mittels dessen der einzelne seinen persönlichen Sinn ausdrückt, wobei diese Verkörperung, im Gegensatz zur religiösen Entweltlichung, den künftigen Weg zur Vollendung darstelle.

Auch den Mitmenschen gelte es der gleichen Wertung zu unterziehen, ihn als Vorbild oder Sinnbild des eigenen Strebens aufzufassen, wie dies der Philosoph einerseits in Menschen als Sinnbilder und andrerseits in seiner Reise durch die Zeit darzustellen versuchte. Erst auf dieser Ebene ergibt sich der wahre menschliche Kontakt im Gegensatz zur Banalität und Trivialität des Alltagslebens. Die Ebene der Selbstverwirklichung und damit der Sinnesphilosophie sei nicht die Wissenschaft, die als letztes Ziel die Erkenntnis hat, sondern die Kunst, bei der die Erkenntnis der Beherrschung des Gestaltungsmaterials dient, wie etwa der Maler die Gesetze der Farbmischung oder der Musiker jene von Harmonie und Rhythmus zu kennen hat. Weder Geist noch Körper bestimmen die Ebene der Kultur, sondern diese gestaltet sich im Zwischenreich der seelischen Beziehungen. Die Gefahr der Existenz ist die Verhärtung im Zwischenreich; diese kann nur überwunden werden — wie in seinem Alterswerk Das Buch vom Ursprung erläutert wird — wenn der Weg nach beiden Ursprüngen, dem geistigen wie dem körperlichen offen bleibt.

Für Hermann Keyserling war das wesentliche Anliegen die Bestimmung der Kulturen als Verwirklichungsfeld der Persönlichkeit.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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