Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Revolution der Jugend

Die Kulturphilosophie verstand sich als Erfüllung des ganzheitlichen Denkens, brachte aber letztlich eine Relativierung seines Absolutheitsanspruches, vor allem nachdem dieses sich in seinem Totalitarismus mit dem deutschen Nationalsozialismus gepaart hatte. So war die Nachkriegsgeneration mit Ausnahme der beiden antagonistischen soziologischen Denkstile, des amerikanischen Positivismus und des dialektischen Materialismus, skeptisch und relativistisch eingestellt.

Die Entmythologisierung der Religion zusammen mit den ökumenischen Bewegungen führte im Verein mit der technisch-wissenschaftlichen Revolution zu einer grundsätzlichen Wandlung, der keiner der traditionellen Stile mehr gewachsen war. Bei allen Völkern wurde der Abstand zur eigenen Tradition größer als jener zu anderen Kulturen, und auch der neuaufbrechende Gegensatz zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern äußerte sich dialektisch: als Auseinandersetzung auf dem gleichen Weg zum biologischen Wohlstand, für den die geistige Bemühung im Osten wie im Westen zum Überbau erklärt wurde. Die Betonung der Kulturautonomie bei den aus dem Kolonialismus befreiten Völkern Asiens und Afrikas darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese der Politik und Wirtschaft untergeordnet bleiben. Der Schatten der Atombombe brachte eine globale Zerstörung aller Zivilisation in den Bereich der Vorstellbarkeit — amerikanische Denker behaupten, dass nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit dieses Schicksal unausweichlich sei; eine Gesellschaft, die die Mittel zu ihrer Zerstörung in der Hand habe, würde sich in längstens fünfhundert Jahren vernichten.

Utopien im Sinne Orwells und Huxleys trugen das ihre dazu bei, um die Zukunft ebenso wie die Geschichtsmodelle unglaubhaft, wenn nicht unerwünscht zu gestalten, und so schien die Menschheit an das Ende der Geschichte angelangt; ja in Gefahr, die Wandlung, die Mutation vom homo faber in den homo sapiens rückgängig zu machen; — denn es war die technische Begabung, die den Menschen als Werkzeugmacher stärker als alle Tiere werden ließ, bis schließlich die Harmonie mit der Natur im Sinnbild des Paradieses verloren gegangen war. Alle Denkstile waren ein Versuch gewesen, die hieraus entspringende Angst zu überwinden. Die gleiche Rolle übernahm jetzt eine Dialektik, welche nun die wirtschaftliche Arbeit einer Muße im Sinne der Zerstreuung gegenüberstellte; mit dem Erfolg, dass die unbestimmbare Angst immer stärker zu werden begann, immer stärkerer Zerstreuungsmittel bedurfte, die sich im Westen in eine Übersteigerung des Konsums, im Osten einer solchen der Planung, und in den Entwicklungsländern in einer nationalen Hysterie ähnlich dem Faschismus zu äußern begann.

Die geistige Einbeziehung der Todeswelt und Traumwelt im Sinne der Religionen verlor selbst für deren Vertreter ihre Glaubwürdigkeit, obwohl die offiziellen Stellen sich weiter mit dem Mantel der Tradition und Repräsentation schmückten. Und so kam es zu einer Revolution der Jugend gegen das Establishment in allen Ländern der Erde, die die ehemals führenden Protagonisten in Ost und West in die Rolle der Konservativen drängte. Der Abbau der geschlechtlichen und sozialen Tabus führte zu einer Lebensform, die einen Bruch der historischen Kontinuität bewusst anstrebte: wenn alle historischen Kulturen sich nur im Sinne des Strukturalismus als ein möglicher Ausdruck gegebener Komponenten verstehen lassen, so ist nicht nur ihr absoluter, sondern auch ihr relativer Wert zu bezweifeln; denn schließlich ist keine bisher ein Ausdruck aller menschlichen Möglichkeiten gewesen, und sofern der einzelne seinen Sinn nicht mehr im Vorbild einer Persönlichkeit zu finden vermag — weil alle Menschen eine verschiedene Veranlagung besitzen — so hat er dies umso weniger in einer nationalen Tradition. Hieraus entstanden die Bewegungen der Beatniks und der Hippies, welche teils in soziologisch frühere Formen wie jene des Stammes regredierten, teils aber eine neue Vertiefung über jene einzige und letzte Tradition zu finden versuchten, die bisher nicht im Rahmen der Weltkultur Aufnahme gefunden hatte: der indianischen von Nord- und Südamerika.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD