Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

Nachwort

Chaos und Selbstorganisation

Seit 1977 traten sowohl in Amerika als auch in Europa die chinesischen Martial Arts in den Vordergrund: Seit den Neunzigerjahren haben sie ihren festen Platz erworben. Für die chinesische Tradition ist Chi der von Buddha gelehrte erfahrbare Aspekt des Göttlichen, wie ihn die letzte zitierte Rede des Buddha umreißt.

In der Evolution ist Chi Träger der Selbstorganisation, die die darwinsche Hypothese des Kampfes ums Dasein und des Überlebens der Tüchtigen für viele Biologen, so Erich Jantsch, Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela ergänzt. Die mathematische Grundlage dieser Kraft wurde bereits 1962 durch Benoît Mandelbrot entdeckt: Fraktalität, Selbstähnlichkeit, Skalengleichheit und die Attraktoren des deterministischen Chaos.

Mandelbrot schreibt: zwar ist das Buch der Welt in mathematischer Sprache geschrieben, aber nicht in euklidischer. Kein Berg ist ein Kegel, kein Baum eine Kugel. Aber jeder Naturerscheinung liegt ein Algorithmus zugrunde, und durch dessen Wiederholung entstehen alle Erscheinungen unserer Welt.

Jedes Wesen wiederholt und bewahrt die gleiche Struktur vom kleinsten bis zum größten Umfang. Die Küste von England, sein berühmtestes Beispiel, zeigt in jedem kleinsten Abschnitt die gleiche Form wie das Ganze. Nicht der Kosmos sei die Grundlage der Welt, sondern das Chaos. Dieses birgt vier Attraktoren, die fraktal Ordnung erzeugen: den eindimensionalen Fixpunktattraktor wie beim Pendel; den zweidimensionalen Grenzzyklusattraktor wie beim Wettersatelliten; den dreidimensionalen Torusattraktor wie bei den vielfältigen Rhythmen eines Lebewesens, die aus unzähligen Grenzzyklen bestehen; und schließlich der vierdimensionale seltsame Attraktor, die Turbulenz, die die einzige nullhafte Subjektivität ist.

Ordnungen sind vorübergehende Gleichgewichtszustände. Keiner der Attraktoren wird je erreicht, daher sind mathematisch die Ergebnisse fraktal zwischen nullter und erster, erster und zweiter, zweiter und dritter Dimension.

Das menschliche Gewahrsein ist nicht angepasst wie das Bewusstsein, sondern wie das göttliche kreativ und ordnungsschaffend. Man muss also in sich zum Nullpunkt des seltsamen Attraktors durchstoßen, dann erschafft man im Einklang mit dem All die Ordnung der Welt.

Als 1989 der Kommunismus zusammenbrach und der ideologische Gegensatz von Ost und West sich auflöste, traten die Koordinaten der Wassermannzeit überall in den Vordergrund: Demokratie, Selbstbestimmung, Menschenrechte, Ablehnung des Persönlichkeitskults und des Rassismus, Gleichberechtigung der Frau und Kampf gegen allen Elitarismus wurden zum Lippenbekenntnis aller Nationen. Der politische Akzent ging endgültig von den traditionellen und feudalen Loyalitätsforderungen zur wirtschaftlichen Basis der Arbeitsgesellschaft über. Geistige Zielsetzungen und kulturelle Werte sind nur noch Überbau. Die Psychotechniken verlagerten ihren Schwerpunkt von der Therapie auf das Managertraining; an die Stelle der ökonomischen Kommandostruktur trat das Netzwerk und die Öffnung gegenüber Einfällen.

Für die geistig Strebenden bot sich als klassifikatorischer Generalnenner die Astrologie an, die immer weitere Kreise zieht. Jeder weiß heute sein Sonnenzeichen, und über sechzig Prozent kennen ihren Aszendenten. Doch die Grundlage der traditionellen Astrologie blieb die astronomische falsche Ordnung des Ptolemäus, ergänzt durch eine fiktive Zuordnung der transsaturnischen Planeten, ohne Kenntnis des Enneagramms. Positiv war, dass der Reichtum der astrologischen Begrifflichkeit über Zeitung und Fernsehen allgemein bekannt wurde. Negativ war, dass die früher königliche Kunst der Esoterik ihren geistigen Sinn verlor, oder bei jenen, die sich als Esoteriker bezeichnen, in den Mythos zurückfiel.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
Nachwort
© 1998- Schule des Rades
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