Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Musik und Zahl

Alles Naturgeschehen und alles menschliche Handeln lässt sich laut chinesischer Auffassung auf eine der vierundsechzig Ursituationen zurückführen, von denen jede sich in jede andere wandeln kann. Das Gesetz dieser Wandlungen fanden die Chinesen in der Musik, die sie als erste der Menschheitskulturen systematisch untersuchten.

In mythischer Sprache wurde die Entdeckung der Tonwelt folgendermaßen dargestellt: eines Tages ging der Kaiser Huang Ti in den Wald. Dort sah er zwei Phönixe Vögel, die sich laut mythischer Anschauung verbrennen und neu aus der Asche erstehen. Jeder dieser Vögel sang eine sechsstufige Tonleiter. Damit entstanden die zwölf Töne, die der Kaiser im Kreis anordnete. Die aktive Tonleiter Yang, die der männliche Phönix sang, entspricht dem ersten Zeichen des I Ging, Kiën, mit sechs starken Strichen und die passive Tonleiter Yin des weiblichen Phönix dem zweiten Zeichen Kun mit sechs schwachen Linien. Diese beiden Zeichen stellen also die Ganztonleitern im Rahmen der zwölfstufigen Stimmung dar. Da die sechs Plätze in jedem Zeichen festgelegt sind, so stellt sich die Wandlung von einem Strich in einen anderen musikalisch über eine kleine Sekund, einen Halbtonschritt, dar.

YANG
Y a n g · T o n l e i t e r
YIN
Y i n · T o n l e i t e r

Musik war für die Chinesen der Widderzeit nicht nur eine Kunst, sondern auch ein Erkenntnismittel. In ihr fanden sie Gesetzmäßigkeiten, die sie sowohl sinnlich nachprüfen als auch mathematisch berechnen konnten. Seit Anfang der Überlieferung wurde den Zahlen ein konstitutiver Wert zugemessen. Im Denken folgt nun aus der Null, die in Entsprechung zum Wu Chi steht, die Eins, aus der Eins die Zwei und der Zwei die Drei. Musikalisch folgt auf den ersten Ton Eins als zweiter die Oktave und als dritter die Quinte. Wenn man Quinten aneinanderreiht, kehren sie nach zwölf Schritten zum Ausgangstonwert zurück und bilden so den Quintenzirkel.

Doch nicht nur die Quinten ergeben diesen Kreis; umgekehrt tun es auch die Quarten, die das Verhältnis 3 : 4 in der Maßlänge aufweisen und die gleichen Tonwerte berühren. Somit kam der Kaiser Huang Ti auf folgende Weise zum Tonkreis: er wählte Bambuspfeifen einer bestimmten Länge. Er verkürzte die Pfeifen um ein Drittel und erlangte die höhere Quinte; er verlängerte sie um ein Viertel und erlangte die tiefere Quarte. Beide Erzeugungsarten fanden sich in der Mitte und bildeten in unserer Terminologie etwa die temperierte Skala, die aber nicht genau berechnet, sondern nur annähernd bestimmt wurde. Die Töne ordnete er im Zwölferkreis an; doch so, dass sie im Halbtonschritt zueinander lagen. Die Töne 1, 3, 5, 7, 9, 11 bildeten die Yang-Tonleiter und die Töne 2, 4, 6, 8, 10, 12 die Yin-Tonleiter. Welchen Ton er als Grundwert bestimmte, hierüber weichen die Meinungen ab.

T o n o r d n u n g

Da die Zahlen sich als Faktoren des Wandels auswiesen, wurden sie als Ordnungsprinzipien oder Kategorien verwendet. Ein Abglanz hiervon findet sich im Vers des Lao Tse: Die Eins gebiert die Zwei, die Zwei gebiert die Drei, und die Drei erzeugt die zehntausend Dinge, das heißt, die Totalität der Welt. Dies ist eindeutig der Vorgang der Tonerzeugung. Doch wurden die Zahlen auch arithmetisch verwendet; sie galten als qualitative Prinzipien, als Klassen. Wenn man wusste, was unter eine gewisse Zahl fiel, so kannte man auch den Charakter des Dinges, seinen Symbolwert im Wandel. Das Urschema der Zahlen von eins bis zehn wurde in folgenden zwei magischen Quadraten dargestellt:

M a g i s c h e s · Q u a d r a t · H i m m e l M a g i s c h e s - Q u a d r a t · E R D E

Die ersten fünf ungeraden Zahlen sind vom Himmel, die ersten fünf geraden Zahlen von der Erde erzeugt worden. So ist das linke Quadrat mit der Mitte Fünf das des Himmels, das rechte mit der Mitte Sechs das der Erde. Jede der Zahlen hat eine Bedeutung. Die ersten fünf entsprechen den Elementen: 1 = Wasser, 2 = Feuer, 3 = Holz, 4 = Metall, 5 = Erde. 6, 7, 8 und 9 wurden als Bezeichnung der starken und schwachen Linien im Buch der Wandlungen verwandt. 6 galt gleichzeitig als Symbol des Kreises, 10 als Symbol der Sonne. So entwickelte sich ein komplexes System der Zuordnung, das in Einklang mit den kosmischen Zeitmaßen gebracht wurde.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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