Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

Einführung

Philosophische Geistesgeschichte

Es gibt viele Arten und Weisen, die Geschichte des menschlichen Geistes zu schildern. Doch können wir drei Haupttypen unterscheiden: einen positivistischen, metaphysischen und schließlich einen philosophischen Typus.

Diese Typen werden durch verschiedene Kriterien bestimmt. Die positivistische Geistesgeschichte hat ihre Maßstäbe in der nachprüfbaren Erfahrung — in den Daten, die aus einer gewissen Epoche zugänglich sind. Ihr Prototyp ist die Wissenschaft der Archäologie. Es bedeutet eine positivistische Einstellung, wenn die Urgeschichte nach den benützten Werkzeugmaterialien gegliedert wird, so wie man z. B. heute zwischen Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit unterscheidet. Diese Unterscheidung schließt sich an ein herausgegriffenes und an sich unwesentliches, doch leicht nachprüfbares Merkmal an; sie gleicht damit der Gewohnheit, in der geologischen Erdgeschichte Epochen nach den am meisten vorkommenden Fossilien, den sogenannten Leitfossilien zu bestimmen. Aufgabe einer positivistischen Geistesgeschichte wäre es, die Tatsachen und nachweisbaren Geschehnisse, so abstrus und unverständlich sie auch erscheinen mögen, wirklichkeitsgemäß zu schildern und sich dabei aller Verallgemeinerung und Theorie zu enthalten.

Die metaphysisch orientierte Geistesgeschichte wählt den entgegengesetzten Weg: sie versucht die wissenschaftlich erfassbaren Daten einem vorgegebenen und als wahr geglaubten Geschichtsschema, einer Offenbarung einzuordnen; z. B. die geologischen Geschichtsepochen, wie dies Teilhard de Chardin anstrebt, mit dem biblischen Schöpfungsmythos in Einklang zu bringen. Während also die positivistische Geschichtsschreibung sich bemüht, aller nicht unbedingt notwendigen Hypothesen zu entraten, ist es das ausgesprochene Ziel jeder metaphysischen Auffassung, die Tatsachen im Rahmen ihrer geglaubten Hypothesen zu begreifen und zu interpretieren. Zu dieser letzten Auffassung gehören aber nicht nur die religiösen Weltbilder wie Christentum und Islam, sondern auch die marxistische Geschichtsinterpretation; obwohl sie sich selbst als wissenschaftlich-empirisch bezeichnet, will sie alle Daten dem marxistischen Schema einordnen, welches nicht aus der Erfahrung, sondern aus der Lehre des dialektischen Materialismus abgeleitet ist.

Zwischen einer positivistischen und einer metaphysischen Auffassung der Geistesgeschichte steht der philosophische Typus, der sich wesentlich von den beiden unterscheidet, obwohl er deren Daten verwenden muss. Hierbei kommen sowohl die erfahrbaren Daten zur Geltung, als auch die religiösen Weltbilder und theologischen Interpretationen. Da eine solche Geschichte von der menschlichen Wirklichkeit handeln soll, muss alles, was überhaupt wirksam geworden ist, in gleichem Maße berücksichtigt werden; und es besteht kein Zweifel, dass religiöse und metaphysische Vorstellungen die geschichtliche Wirklichkeit in gleichem Maße geprägt haben wie die der positivistischen Auffassung zugänglichen Tatsachen.

Eine philosophische Geistesgeschichte ist aber nicht gleichzusetzen mit einer Geschichte der Philosophie; eine solche müsste sich mit den Systemen in ihrer Ganzheit auseinandersetzen, mit all den Erklärungsversuchen, wie sie seit Anfang der Menschheit entstanden sind; sie gehörte also teils zur positivistischen Geschichtsauffassung, teils zur metaphysischen. Was wir hingegen als philosophische Auffassung der Geistesgeschichte behandeln wollen, ist etwas ganz anderes, zu dessen Erkenntnis wir erst eine genauere Begriffsbestimmung vornehmen müssen. Es gibt zwei Weisen, Wissen zu erwerben: die eine vollzieht sich über das Begreifen, und die andere über das Verstehen.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
Einführung
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