Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Konfuzius

Kung Fu Tse wurde im sechsten vorchristlichen Jahrhundert geboren, als die Dschou-Dynastie dem endgültigen Verfall entgegenging. Von Anfang an versuchte er, die Wurzeln der Kultur kennen zu lernen und mit Hilfe dieser Erkenntnis ihren Niedergang aufzuhalten. Ähnlich wie Platon strebte er danach, seiner Philosophie in einem Staate Wirksamkeit zu verleihen. Er war auch drei Jahre lang Minister eines Kleinstaats, brachte diesen binnen kurzem zu Wohlstand, fiel aber dann Intrigen zum Opfer und zog dreizehn Jahre lang heimatlos als wandernder Lehrer von Ort zu Ort. Schließlich kehrte er nach einem Regierungswechsel in seinen Heimatstaat Lu zurück. Im Alter wandte er sich der Neufassung der heiligen Bücher zu: dem Buch der Wandlungen, den Büchern der Urkunden, der Lieder und der Riten.

Den Angelpunkt seines Strebens fand Konfuzius im Begriff der Sitte. Als Sitte bezeichnete er dasjenige Verhalten, welches den Menschen in Einklang mit der Natur versetzt und ihren Wandlungen entspricht; sie müssen nicht nur echt und wahr, sondern auch anmutig und schön sein, damit ihr, gleich einer Musik, die Menschen willig folgen würden.

Der Begriff Sitte bedeutet ein raumzeitliches Verhalten bezogen auf ein Vorbild, ein Modell: damit eine Sitte befolgt werde, muss sie einerseits anmutig, andrerseits leicht verständlich sein. Konfuzius erfand keine Sitten, sondern suchte unter den natürlich gewachsenen diejenigen aus, die schön und leicht zu begreifen waren und das Leben in echte dialektische Gegensätze brachten, vor allem den zwischen Mann und Frau, zwischen männlichen und weiblichen Pflichtenkreisen. Während der kurzen Zeit, in der es Konfuzius beschieden war, eine öffentliche Stellung zu bekleiden, sah er es als seine höchste Leistung an, dass die Männer und Frauen auf verschiedenen Straßenseiten gingen: dass also ihre Welten klar getrennt waren, um ein echtes Zusammenspiel von Yang und Yin zu ermöglichen.

Mann und Frau, die zeugende und empfangende Verkörperung des Menschen sind die Urprinzipien der Gesellschaft. Ihnen entsprechen die beiden Ideale Weisheit und Liebe. Weisheit ist nicht intellektuelle Bildung, sondern Wissen, das Fleisch geworden ist, wie es Lao Tse formuliert:

Wer mit klarem Blick alles durchschaut,
kann wohl ohne Kenntnisse bleiben.
tip

Wird überall der dialektische Gegensatz gewahrt, von der Natur bis zu den Verhältnissen der Gesellschaft, so gibt er dem Menschen die Kraft zum sinnvollen Verhalten, vor allem dann, wenn er sich nach den Urbildern des Buchs der Wandlungen richtet; wenn er einerseits seinen natürlichen Pflichtenkreis erfüllt, der mit den Geboten der Elternliebe, Gattenliebe, Kindesliebe und Gehorsam gegenüber dem älteren Bruder und dem Fürsten umrissen ist, also die Gebote der Gerechtigkeit erfüllt, und andrerseits dem Ideal der Menschlichkeit folgt, das durch die Gliederung nach den fünf Reifestufen bestimmt wird. Konfuzius rechnete sich selbst der vierten Stufe zu; er hielt sich für einen Berufenen, aus der Überlieferung die wahre Ordnung und Sittlichkeit wieder herzustellen. Als heilige Weise erkannte er nur die sieben Heroen der Vergangenheit an: die mythischen Kaiser Yau (erhaben), Kaiser Shun (gütig), Kaiser Yü (groß), Kaiser Tang (vollkommen) und die Begründer der Dschou-Dynastie: König Wen, seinen Sohn König Wu und schließlich den Herzog von Dschou.

Wie lassen sich nun die Sitten zu einem Gebäude zusammenfügen, in dem der Mensch einen Halt gewänne? Die Antwort hierauf finden wir am klarsten im folgenden Abschnitt des Lun Yü (3,13):

Dsi Lu sprach: Der Fürst von We wartet auf den Meister, um die Regierung auszuüben. Was würde der Meister zuerst in Angriff nehmen? Der Meister sprach: Sicherlich die Richtigstellung der Begriffe. Dsi Lu: Darum sollte es sich handeln? Da hat der Meister weit gefehlt! Warum denn deren Richtigstellung? Der Meister: Wie roh du bist, Yü! Der Edle lässt das, was er nicht versteht, sozusagen beiseite. Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht. Stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande. Kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht. Wenn Moral und Kunst nicht gedeihen, treffen die Strafen nicht. Treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, dass er seine Begriffe unter allen Umständen Wort werden lasse kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, dass in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.

Sein ganzes Leben hindurch versuchte Konfuzius als wandernder Lehrer seine Philosophie den Schülern, die ihn begleiteten, mitzuteilen und vorzuleben. Doch seine Forderungen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit waren zu hoch, auch an ihre Verstehensfähigkeit.

Solches Verstehen ist jenseits des mechanischen Lernens. Konfuzius formulierte es in folgender Weise: Wenn ich eine Ecke zeige, und er (der Schüler) kann es nicht auf die anderen drei übertragen, so wiederhole ich nicht. Einen einzigen Schüler fand Konfuzius nur, der nach seinem Sinn war, Yen Hui; doch dieser starb in jungen Jahren. So konzentrierte er sich auf ein neues Werk: in seinen Frühlings- und Herbstannalen des Hauses Dschou die Geschichte nicht als Chronik, sondern so darzustellen, wie sie vom Standpunkt der Gerechtigkeit und Sittlichkeit aus zu beurteilen wäre.

Der Einfluss dieser Annalen war ungeheuer; er prägte die nächsten 2.000 Jahre chinesischer Geschichte. Und drei Jahrhunderte später als im Weltenjahr die Fischezeit begann einigte der berüchtigte Kaiser Huang Ti, ein Barbar aus dem Westen, das Reich unter einer straffen Zentralverwaltung; die Feudalordnung wurde zerstört. 213 v. Chr. ließ Huang Ti’s Kanzler Ssi Me alle klassischen Bücher verbrennen. Doch kurz danach in der Han-Dynastie wurde der Konfuzianismus zum Leitbild des Staates und blieb bis zur Revolution von Sun Yat-sens die offizielle Philosophie des Reiches.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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