Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

2. Das mythische Denken

Buddha

Gautama Sakya, der Buddha der Erwachte oder Erleuchtete wurde 556 v. Chr. bei Patna geboren. Obwohl er gleichzeitig mit den Vorsokratikern lebte, wurde sein Wirken ganz im Stile des mythischen Denkens erfasst und interpretiert. Die Legende berichtet: ein Engel, der aus dem Tushita-Himmel auf die Erde herabblickte, sei von der Not der Menschen, Götter und Geistern gerührt worden. Um sie zu retten, habe er in Gestalt eines weißen Elefanten seinen irdischen Leib in den Schoß der Königin Maya, der Mutter Buddhas gesenkt. Nach zehnmonatiger Schwangerschaft gebar diese den künftigen Buddha. Ein Blumenregen fiel vom Himmel, Sphärenmusik ertönte, und in der Luft schwebte ein Baldachin, während das Kind unbefleckt der rechten Seite seiner Mutter entsprang, erfüllt vom Wissen um seine früheren Existenzen. Das Neugeborene erhob sich vom Lotusbett, auf das die Mutter es gelegt hatte, sah mit einem Löwenblick zum Himmel, tat sieben Schritte nach jeder Himmelsrichtung und sprach:

Ich werde der Wiedergeburt, dem Alter, der Krankheit und dem Sterben ein Ende machen… das ist in Wahrheit meine letzte Geburt, es wird keine Wiedergeburt mehr für mich geben.

Die sieben Schritte bedeuten symbolisch die Ersteigung des Gipfels der Welt über den sieben Weltzonen und den sieben Himmeln; der Geburtsmythos will also die von Anbeginn bestehende Transzendenz des Buddha über Raum und Zeit darlegen.

Die Königin Maya starb sieben Tage nach der Geburt. Sie war zu heilig, um noch weiter auf Erden leben zu können. Das Kind, das neben seinem Familiennamen Gautama den Namen Siddharta (der das Ziel erreicht hat) erhielt, wurde von seiner Tante erzogen, die später seines Vaters Suddhodanas Frau wurde. Siddharta wuchs mit den anderen adligen Knaben am Hof seines Vaters auf, aber immer war er der erste unter ihnen, sei es beim Bogenschießen, bei den Reitwettkämpfen, beim Fechten oder in den Wissenschaften.

Den König Suddhodana beunruhigte indessen die Weissagung eines Asketen, der prophezeit hatte, dass sein Sohn ein großer Herrscher werden würde, wenn er seine Nachfolge auf dem Fürstenthron anträte, dass er aber nur noch das Heil aller Lebewesen im Auge haben und für den Thron verloren bleiben würde, wenn er sich eines Tages entschlösse, Asket zu werden. Der König war daher hoch erfreut, als sein Sohn sich in die schöne Prinzessin Yasodhara verliebte und sie heiratete. Doch der König hatte sich getäuscht. Siddharta fand kein Wohlgefallen am Leben im Wohlstand. Eines Tages machte er sich auf und fuhr nach der Stadt Kapilavastu. Da begegnete ihm das Leben, wie es wirklich war. Zuerst traf er einen Greis, dessen Leib von achtzig Lebensjahren ausgezehrt war. Sodann hörte er die Schreie eines Pestkranken, der an der Straße lag, und schließlich sah er einen Leichenzug vorüberziehen, der einen Leichnam zur Verbrennungsstätte brachte.

Dies Erlebnis beeindruckte Siddharta tief. Als er dann noch einen Wanderasketen traf, der seine Nahrung erbettelte, begann er zu ahnen, welchen Weg er künftig gehen müsse. Er beschloss, der Krone zu entsagen und sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben. Eines Nachts, während seine Frau und sein eben geborener Sohn Rahula (die Fessel) schliefen, machte er sich auf. Schweigend verließ er auf einem Pferd mit umwickelten Hufen das Schloss. Er schlug sich in den nahen Wald, entledigte sich seiner kostbaren Gewänder, schor sein Haar und begann die Wanderschaft.

Neunundzwanzig Jahre, ein Umlauf des Saturn, waren verflossen, als sich der künftige Buddha auf den Weg machte. Er schloss sich zuerst Einsiedlern an, und übte sich in den Methoden des Yoga. Bei dem Samkhya-Asketen Alara Kalama erfuhr er die Vergeblichkeit aller Kasteiung und erkannte, dass weder das Ertragen aller Schmerzen, noch die Zähmung der Sinne zur Wahrheit führen. Auch in der brahmanischen Lehre fand er nicht die gesuchte Antwort.

So wurde ihm klar, dass er die Wahrheit nur in sich selbst finden könne. In Begleitung von fünf Schülern wanderte er nach Uruvela bei Gaya in Bihar. Sechs Jahre meditierte er am Ufer eines Flusses und versuchte über die Askese Moksha zu erreichen. Aber er fand weder die Erkenntnis noch einen Schlüssel zu ihr. So entschloss er sich, wieder normal zu leben.

Eines Abends während seiner Wanderung machte er an einem Bodhibaum bei Gaya halt. Hier nun überkam ihn die Erleuchtung. Nachdem er den Feigenbaum siebenmal umschritten hatte, setzte er sich mit gekreuzten Beinen im Lotussitz nach Osten gewandt auf einen Heuhaufen und sprach:

Möge meine Haut schrumpfen, möge meine Hand verdorren und mögen meine Gebeine sich auflösen, solange ich nicht auch die letzte Erkenntnis gefunden habe, werde ich mich nicht von hier wegrühren.

Mara, der Teufel, spürte die Gefahr, und versuchte den Buddha von seiner Meditation abzulenken. Aber alle Störungen blieben vergebens. In der ersten Nachtwache hatte der Buddha die Vision alles dessen, was er in seinen früheren Leben erlebt hatte. In der zweiten erkannte er den Zustand der gegenwärtigen Welt, und mit Ende der dritten Nachtwache hatte er die Verkettung von Ursache und Wirkung in der Welt erkannt und den Weg zu ihrer Überwindung verstanden:

Indem man den Durst nach Wiedergeburt, der von Existenz zu Existenz führt, in sich abtötet, verhindert man eine neue Geburt und ein neues Leid. Um diesen Durst zu töten, gibt es nur das Mittel eines reinen Lebens.

Nun begann der Buddha nach jemandem zu suchen, dem er als erstem seine Heilsbotschaft verkünden könnte. Er entsann sich der fünf Schüler, die ihn einst begleitet und wieder verlassen hatten; kraft seines übernatürlichen Wissens sah er sie im Geiste in Benares und machte sich auf dorthin. Im Park von Benares fand er seine Schüler: Höret, ihr Mönche, sprach er, der Weg ist gefunden! Und er begann die Verkündigung seiner Lehre in der berühmten historischen Predigt von Benares:

Erkennt, ihr Mönche, dass alles Dasein leidvoll ist. Geburt ist Leid, Altern ist Leid, der Tod ist leidvoll; leidvoll ist auch, mit jemandem vereint zu sein, den man nicht liebt, von jemandem getrennt zu sein, den man liebt, und das nicht erlangen zu können, was man begehrt. Der Ursprung des Leidens in der Welt ist der Durst nach Wiedergeburt, der Durst nach Befriedigung der fünf äußeren und fünf inneren Sinne, der Durst nach dem Tod…

Was ist, ihr Mönche, der mittlere Weg,… der zur Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirvana führt?

Vernehmt zuerst, dass er zwischen der Kasteiung und dem sinnlichen Leben liegt; erkennt dann, dass es ein achtfacher Weg ist:

  • rechter Glaube,
  • rechte Gesinnung,
  • rechtes Reden,
  • rechtes Handeln,
  • rechtes Leben,
  • rechte Absichten,
  • rechtes Denken,
  • rechte Versenkung.
  • Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit vom Leid.
  • Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit von der Vernichtung des Leides;
  • Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit von dem Weg, der zur Vernichtung des Leides führt.
  • Das ist, ihr Mönche, die heilige Wahrheit vom achtfachen Pfad.

Damit war das Rad der Lehre zu seiner ersten Drehung in Bewegung gesetzt. Anfänglich folgten ihm hauptsächlich die Anhänger der Kriegerkaste, die Kshatriyas; aber allmählich gesellten sich auch einige Brahmanen, so die Brüder Kasyapa, zu ihm und bekehrten sich zu seiner Lehre. Fünfundvierzig Jahre wanderte der Buddha durch das nordwestliche Indien.

Zweiunddreißig Jahre nach seinem Auszug besuchte er auf Bitte seines greisen Vaters das Elternhaus, verkündete seine Lehre und gab den folgenden Rat:

Das sind die fünf Regeln des täglichen Lebens:
  • Habt Mitleid und achtet auf das geringste Leben.
  • Gebt und empfangt freimütig, aber nehmt nichts ungebührlich entgegen.
  • Sagt niemals eine Lüge, auch dann nicht, wenn es die Situation zu entschuldigen scheint.
  • Meidet Genussgifte.
  • Achtet eure Frauen.
  • Begeht keine unsittlichen Handlungen.

Mit achtzig Jahren wusste der Buddha seine Aufgabe beendet und hielt seine letzte Predigt:

Nichts ist in den sichtbaren und unsichtbaren Welten außer einer einzigen Macht, die ohne Anfang und Ende ist und nur ihrem eigenen Gesetz untertan…
Versucht nicht, ihre Unermeßlichkeit mit Worten zu fassen…
Wer fragt, irrt schon, wer antwortet, irrt ebenfalls…
Erhofft euch keine Hilfe von den Göttern, sie sind wie ihr dem Gesetz des Karma unterworfen, werden geboren, altern und müssen sterben, um wiedergeboren zu werden. Sie können ihr eigenes Schicksal nicht wandeln. Erwartet alles nur von euch selbst. Vergesst nicht: …jeder kann jede höhere Macht erlangen…
  • Das Leben ist ein langer Todeskampf, es ist nichts als Leid. Das Kind hat recht, wenn es weint, sobald es auf die Welt gekommen ist. Das ist die erste Wahrheit.
  • Die zweite Wahrheit ist, dass das Leid aus dem Durst, der Begehrlichkeit entsteht. Der Mensch hängt sich an Schatten er stützt sich auf ein falsches Ich und richtet sich in einer bloß eingebildeten Welt ein. Wenn er stirbt, ist er gesättigt von einem vergifteten Trank und wird wiedergeboren, um von neuem von diesem Trank zu trinken.
  • Die dritte Wahrheit sagt, dass es ein Ende des Leides gibt. Du wirst dieses Ende aber nicht finden, wenn du nicht alle Wünsche und Leidenschaften aus deinem Herzen verjagst…
  • Nun höre die vierte Wahrheit vom achtfachen Pfad vom Heil. Achte zuerst auf das Karma, von dem deine künftige Existenz abhängt. Sorge sodann dafür, dass du nur positive Gefühle hegst und deinen Zorn überwindest; schließlich bewache deine Lippen, als wären sie das Tor zu einem Königspalast, damit nichts Unreines über sie komme. Danach richte deine Handlungen so ein, dass das Übel bekämpft und das Gute gefördert wird. Hast du in Befolgung dieser vier Wege den Egoismus beseitigt, den falschen Glauben, den Hass und die Verblendung, dann wirst du in der nächsten Existenz fähig sein, die vier nächsten Stufen des achtfachen Pfades zu beschreiten: rechtes Leben, rechtes Denken, rechtes Streben, rechte Versenkung. So wirst du ganz von selbst mit der Überwindung des Durstes nach dem Leben den Himmel gewinnen und mit der Überwindung des Hochmuts, dich auf dem Weg zum Heil zu wissen, dem Nirvana näher kommen.

Der Kernsatz der Bhagavad Gita lautete: besser, man erfüllt sein persönliches Karma, und sei es noch so niedrig, als das erlauchte eines anderen. Hier zeigt sich der Gegensatz zur buddhistischen Lehre in klarster Form: dem Hinduismus geht es um den Weg, dem Buddhismus um das Ziel, um das Erreichen der Erleuchtung, in deren Zustand alle Unterschiede schwinden. So hat der Buddhismus auch einen zwölffältigen Denkrahmen herausgebildet, der wesentlich von der astrologischen Struktur der Gita abweicht. Der Hinduismus weiß das Ziel im Transzendenten, und beschreibt Weg und Tor zu diesem. Der Buddha dagegen erkannte aus dem Ort der Transzendenz heraus die Verkettung von Diesseits und Jenseits; den Kreislauf der Wiedergeburten, wo der Mensch zwischen Inkarnation auf der Erde und Aufenthalt im Seelenreich alterniert. Die funktionale Gliederung des Wesenskreises behielt er als die fünf Skandhas bei: Vorstellung — Denken, Verkörperung — Wollen, Trieb — Fühlen, Empfindung, jedoch als Kreismittelpunkt nicht Atman, sondern Leere als Nabe des Rades. Diese bildet den Zugang zum Dharmarad der achtfachen Lehre, das den Menschen aus der Verhaftung an das Bhava Chakra, das Rad des Werdens, befreien soll.

Dharmarad
D h a r m a r a d

Die Mitte des Bhava Chakras bildet der triebhafte Aspekt der drei Bereiche in tierischer Symbolik, als Schlange, Schwein und Hahn (Körper, Seele, Geist). Zwischen Mitte und Umkreis gliedern sich die sechs himmlischen und höllischen Bereiche. Der Umkreis wird durch die zwölf Kausalschritte bestimmt. Am Anfang, Eins, steht das Nichtwissen, das für die spätere neue Geburt verantwortlich sein wird; das heißt, die Tatsache, dass der Mensch nicht zum inhaltslosen Urlicht durchgestoßen ist. Das Unwissen erzeugt als Zwei die Triebkräfte, Samskaras; diese bringen als Drei die Bewusstheit, Vijnana, hervor, den Keim einer neuen Personhaftigkeit, der sich in Vier als Name und Gestalt, Nama-Rupa, manifestiert. Hieran schließt sich als Fünf die Entstehung der sechs Sinne (fünf äußere, ein innerer), welche die Beziehung zur Wirklichkeit ermöglichen. Als Sechs kommt nun das Gewahrwerden, welches als Sieben die Anteilnahme hervorruft. Aus dieser Anteilnahme entsteht als Acht der Durst, das sinnliche Begehren, Gegenpol des achten Hauses im Astralrad, des Skorpions als Zeichen der Enthaftung und des Todes, welches den Wunsch nach Wiedergeburt auf der Erde in Neun begründet, die dann in den letzten drei Stadien als irdische Existenz erscheint: Zehn, werden, Bhava, wonach das Rad heißt, Elf, Geburt, und Zwölf, Altern und Tod.

B h a v a c h a k r a

Viele Weisen der Erleuchtung sind von Buddha selbst während seiner vierzigjährigen Lehr- und Wanderzeit dargestellt worden. Seine Botschaft richtete sich an Menschen, die dem weltlichen Leben, dem Haushälterstand entsagt hatten. Daher behielt sie auch nur wenige Jahrhunderte die Übermacht und wurde dann vom Hinduismus völlig verdrängt, sodass die Buddhisten heute eine der kleinsten Religionsgemeinschaften des Subkontinents bilden. Doch schon die Lehre der Nachfolger hat sich einige Jahrhunderte später in zwei Richtungen gespalten, Mahayana und Hinayana, das große und das kleine Fahrzeug der Erlösung, mit dem der Mensch den Fluss des Werdens überquert; ein Gegensatz, der auch heute noch in der Teilung zwischen nordöstlichem und südlichem Buddhismus weiterbesteht. Doch diese Entwicklung gehört einem späteren Zeitraum zu. Im dritten Jahrhundert vor Christus einigte der große Kaiser Ashoka das nördliche Indien mit dem Buddhismus als Staatsreligion. Damit fand das mythische Denken im legalistischen seine Fortsetzung der gleiche Vorgang, wie wir ihn schon in China beobachteten und im griechischen Hellenismus kennen lernen werden.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
2. Das mythische Denken
© 1998- Schule des Rades
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