Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

4. Das theologische Denken

Dogma

Die christliche Theologie steht im Gegensatz zur Theosophie. Anstatt aus einem Prinzip, einem systematischen oder wissenschaftlichen Ansatz zur Transzendenz vorzustoßen, ist die Fülle der Schöpfung und der menschlichen Vollendung in Christus offenbar geworden; und es handelt sich darum, einerseits diese Offenbarung zu entschlüsseln, andrerseits aber von ihr aus die Philosophie, das geschichtlich gewordene Wissen, in neuer Form zu interpretieren. Zwar brachte Johannes auch noch eine in mythischer Sprache gehaltene Offenbarung der kommenden Zeit bis zum Ende des Weltenjahres, und Paulus versuchte den Griechen und Römern Christus als den Unbekannten Gott, den neuen aber gleichzeitig ewigen zu deuten, um die bestehenden Anschauungen so weit als möglich mit ihm in Einklang zu bringen. Vor allem in die römische Kirche wurden viele antike Elemente aufgenommen, wie der Ritus der Eheschließung, oder die Festlegung des Geburtstags Christi auf Weihnachten, den Geburtstag des Herakles. Der Bischof von Rom erhielt später den Titel Pontifex, Brückenbauer, den früher Augustus und Cäsar führten; auch in vielen anderen Aspekten ging das Bild des Friedenskaisers Augustus auf Christus über. Doch das zentral neue Element der christlichen Theologie war der Begriff des Dogma als einer Wahrheit, die nicht vom Verstand über die Logik erschlossen oder durch die sinnliche Erfahrung verifiziert werden kann, sondern geglaubt werden muss, um die Voraussetzung neuer Erkenntnismöglichkeiten zu bilden.

Die ersten theologischen Dogmen wurden von den Kirchenvätern der plotinischen Zeit, von Justinus, Origenes, Tertullian, Athenagoras, Irenäus und Clemens von Alexandria ausgearbeitet. Langsam begann sich das neue Denken aus der neuplatonischen Theosophie zu befreien. Als wesentlichstes Dogma galt die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiliger Geist, das genau zu deuten das Hauptanliegen der Jahrhunderte bis zum Konzil von Nicäa wurde, wo dann die arianische Häresie verdammt und die athanasische Version eingeführt wurde: dass nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist als Personen gleichberechtigt seien, obwohl nach der philosophischen Lehre der Logos als erste Schöpfung aus dem Vater hervorgegangen ist.

Das Bild Christi, als Person erlebt, wie er bis zum Ende der Weltzeit als Geist inmitten der Menschheit weilt, ist nicht etwa als eine Manifestation des Vatergottes zu verstehen, der auf diese Weise erkenntlich und wirksam wird, da er es sonst nicht könnte; im Gegenteil, in der einmaligen geschichtlichen Tatsache des Lebens, Lehrens, Sterbens und Auferstehens Christi ist das Endziel der ganzen Schöpfung dargestellt. Und jedes Vertreten einer Teilwahrheit — solches bedeutet der Ausdruck Häresie — muss den Menschen ins Verderben führen, da er nur durch die Teilhabe an der Fülle des Logos das ewige Leben erreichen kann.

Dogmen sind geistige Einstellungen, die das menschliche Streben über das Fühlen — das im neuen Fischezeitalter zur tragenden Funktion geworden war — auf das wahre Vollendungsziel richten. Fühlen geht einerseits vom Wunsch und Trieb aus, setzt aber andrerseits aus dem Erleben der eigenen Unvollkommenheit und Sündigkeit an. Zwar strebt es danach, die höchste Vollendung in der Liebe zu erreichen. Doch die Liebe erkennt nicht, wie das bisherige logische Denken, bestimmte Stufen auf dem Weg an. Mit Haut und Haaren, in ihrer Ganzheit, will sie das Leitbild erreichen; die Stufen sind dabei höchstens Hindernisse. Denn nicht aus eigener Kraft erreicht der theologisch eingestellte Mensch die Auferstehung und Unsterblichkeit, sondern über die Gnade, die frei von Gott gewährt wird. Wer sie nun gewährt in der Dreieinigkeit und auf welche Weise — die Auseinandersetzung über diese Frage beschäftigte die Theologen durch viele Jahrhunderte. Eine Tatsache trat aber bald vor Augen: die persönliche Anstrengung des Menschen, über die Erkenntnis zum Heil zu kommen, das Streben nach Selbsterlösung, welches das Kennzeichen aller antiken Religionen und Einweihungswege gewesen war, wurde als Weg verdammt, selbst wenn es den in Christus Person gewordenen Logos als Prüfstein annahm. So begann die innere Auseinandersetzung des Christentums mit der gnostischen Philosophie, die bis ins 18. Jahrhundert den dynamischen Gegensatz zum Glauben bildete.

Der wesentliche Anlass, der dem theologischen Denken zum Sieg über das theosophische verhalf, war dessen Auswirkung im juristischen Bereich.
Wir erinnern uns, dass das Jus, das logische Recht, das alte Fas als religiös-sittliches Recht in Rom abgelöst hatte und zum Fundament der Staatsordnung geworden war.
Während der Kaiserzeit wurde dieses Jus durch die Gesetze des Kaisers selbst, die Leges, von oben her ergänzt. Diese Leges erhielten ihre Rechtfertigung durch das christliche und kirchliche Recht, das nun als offenbares Recht die erneute Rückbindung zur Transzendenz vollzog:

  • die Schöpfungsgeschichte selbst wurde juristisch interpretiert. Adams Ungehorsam löste die ursprüngliche Rechtsgemeinschaft zwischen Mensch und Gott mit der Folge der Vertreibung aus dem Paradies und dem menschlichen Tod.
  • Mit Noah, Abraham und Moses wurden zwar neue Beziehungen geknüpft; doch betrafen sie nur Auserwählte, wie später die Propheten.
  • Durch Christus, der als Mensch geboren wurde und in seinem Opfertod die Sünden der Welt auf sich nahm, wurde die Rechtsgemeinschaft zwischen Gott und Mensch wieder hergestellt und auf alle ausgedehnt, die seinen Glauben bekennen.

So bedeutete die christliche Offenbarung für das juristische Denken einen Aufstieg von der Logik zur Theologie, von der Natur zur Übernatur, im gleichen Sinn wie seinerzeit das Jus als bewusster Fortschritt gegenüber dem Fas aufgefasst wurde.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
4. Das theologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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