Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

6. Das scholastische Denken

Universalienstreit - Nominalisten

Dem gegenüber behaupteten nun die Nominalisten, der Mensch sei als unsterbliche einzelne Seele geschaffen und erreiche nur über ethische Läuterung des Willens die Unsterblichkeit. Kirchliche und staatliche Vertreter des theokratischen Denkens wurden auf die Tragweite dieses Konfliktes erst aufmerksam, als zweihundert Jahre später Johannes Roscelinus von Compiègne, 1050-1125, die These der Nominalisten auf die Trinität anwandte und behauptete, dass die drei nicht nur geschiedene Personen, sondern auch geschiedene Wesen sein müssten, weil ihnen sonst keine Realität zukäme. Einem Kenner der theologischen Probleme musste klar werden, zu was für schwerwiegenden Glaubenskonflikten diese Behauptung führen konnte. So erwuchs dem Nominalisten Roscelinus ein Gegner im Realisten Anselm von Canterbury, 1033-1109, der ihn in der Synode von Soissons 1092 zum Widerruf zwang. Anselm vertrat im Realismus das Gegenteil von Scottus Eriugena. Credo ut intelligam — ich glaube, auf dass ich verstehe — war sein Wahlspruch. Doch das Verstandene muss in eine rationale Form gebracht werden, damit es lehrbar ist. So wurde Anselm zum eigentlichen Begründer des scholastischen Denkstils in Europa.

Das scholastische Denken steht im Gegensatz zur freien Philosophie, wie wir sie im logischen Denkstil kennenlernten. Anstatt von einem Problem oder Ansatz ins Ungewisse vorzustoßen und sich dem Flug der Gedanken anzuvertrauen, wo immer diese auch hinführen mögen, wollten die christlichen Scholastiker im Rahmen der anerkannten Dogmen das Wissen rational ordnen, durchgliedern und mittels der dialektischen Methode beweisbar und lehrbar machen. So war auch Anselm der erste Philosoph seit Aristoteles, der es unternahm, aus der Logik heraus Gottesbeweise zu liefern.

Dialektisch ist der Nominalismus genauso vertretbar wie der Realismus. So rief jede Behauptung der einen Schule, nachdem der scholastische Rahmen einmal anerkannt war, eine Entgegnung der anderen auf den Plan. Als erster griff der nominalistische Mönch Gaunilo den anselmschen Gottesbeweis an, der auf der These beruhte, dass sich zu jedem Begriff ein vollendeterer denken ließe und dass Gott als dem obersten Begriff auch das Prädikat der Existenz zukommen müsse, da alles Denken in widerspruchsfreien Syllogismen wahr sei, Gaunilo wies nach, dass auch falsche und ungewisse Dinge im syllogistischen Denken darzustellen sind.

Hiermit wurde die Dialektik und die logische Disputation zum Grundstil des abendländischen Denkens, im Gegensatz zur intuitiven, gemeinsamen Wahrheitsfindung der islamischen Philosophie. Wohl auch bestärkt durch die Tatsache, dass die lateinische Sprache durch den juristischen Denkstil geprägt worden ist, galt es fortan, Thesen gegen Angriffe zu verteidigen. Das scholastische Denken entfaltete sich im Spiel der Gegensätze. Ihre Vielfalt fand bald auch politisch und pädagogisch-organisatorisch ihren Ausdruck: überall entstanden im 13. und 14. Jahrhundert die Universitäten als neue Stätten des Lernens und der Schüler zog von Lehrer zu Lehrer, je nachdem ihm der eine oder andere Standpunkt mehr zusagte. Die akademische Lehr- und Lernfreiheit war von Anfang an das Ideal der neuen Institution; gleichzeitig brachte in England die Magna Charta 1215 im Parlament die erste freie politische Versammlung seit den Griechentagen.

Der wesentliche Gegner von Anselm, wenn auch im realistischen Lager, war Petrus Abaelardus. Sein Wahlspruch lautete Intelligo ut credam — ich verstehe, um zu glauben. Für ihn war Logik Teilnahme am Logos, den er im Unterschied zu Scottus Eriugena wieder mit Christus identifizierte; daher sei der beste Logiker notwendig auch der beste Christ.

Abaelard wurde 1079 bei Nantes geboren und eröffnete 1108 in Paris eine eigene Schule, die er 1115 nach Notre-Dame verlegte. Hier lernte er als Schülerin das Mädchen Heloise kennen und verliebte sich in sie. Beide flüchteten aufs Land in die Bretagne, und sie bekam ein Kind. Der erboste Onkel ließ Abaelard entmannen, wodurch ihm nach mittelalterlicher Auffassung der Weg zu geistlichen Ämtern verschlossen wurde; eine Folge der Verurteilung des Origenes als Ketzer, der sich selbst entmannt hatte, um nicht mehr in fleischliche Versuchung zu fallen. Auch Heloise zog sich in ein Kloster zurück; berühmt wurde die Korrespondenz zwischen den beiden.

Der bitterste Feind von Abaelard war der Prediger Bernhard von Clairvaux, 1090-1153, ein Hauptinstigator der Kreuzzüge, auf dessen Anstiften Abaelards Schriften verboten und er zu Klosterhaft verurteilt wurde. Er appellierte an den Papst. Auf der Reise nach Rom, wo er sich verteidigen wollte, brach er zusammen und starb 1142. Heloise erbat sich seinen Leichnam und hütete ihn in ihrem Kloster, bis sie 1164 starb.

Die These Abaelards, die dann in der Hochscholastik zur Lösung des Universalienstreites führen sollte, hieß Konzeptualismus. Begriffe seien nicht bloße Wortzeichen, voces, wie die Nominalisten behaupteten, sondern sermones, sinnerfüllte Worte, die wir im Urteil auf eine Anzahl von Gegenständen anwenden. In den Gegenständen entspricht ihnen der gleichartige Status, also das Allgemeine, Verbindungsfähige, im Unterschied zum besonderen Namen einer Einzelheit. In unserem erkennenden Bewusstsein entsteht das Begriffsbild, welches wir über die Vergleichung gewinnen, indem wir etwa aus der Erfahrung zweier Menschen den Oberbegriff Mensch entwickeln. Der eigentlich realistische Begriff bestimmt das schöpferische Urbild der Dinge im Geiste Gottes, demzufolge sie ihre Verwirklichung finden.

In der Wirkung wesentlicher als seine These war seine Sammlung der Aussagen berühmter Kirchenschriftsteller unter dem Titel sic et non, Ja und Nein, die er als Grundlage seines Lehrens verwendete; er war der gefeiertste Lehrer seiner Zeit. Sein Schüler Petrus Lombardus, der 1160 starb, setzte diese Bemühung mit einer Sentenzensammlung fort. So kam es zu jener der Scholastik eigentümlichen Lehre der Summen, der Wissenskompendien, die in den neuen Universitäten sowohl bei Theologie und Recht als auch bei den Künsten den Lehrstoff ausmachten.

  • Formal gliederten sich die Summen nach dem Trivium, dem unteren Lehrgang mit Grammatik, Dialektik und Rhetorik,
  • und dem Quadrivium, dem oberen Lehrgang mit Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie.

Es ist offensichtlich, dass der Konzeptualismus auf der logischen Ebene die Lösung des Universalienproblems bringt. Doch ging es nicht um das logische Problem, sondern um verschiedene metaphysische Ansätze. Die vier Gesichtspunkte — Nominalismus und Realismus in Bezug auf die Universalien, Intellektualismus und Voluntarismus als verschiedene Wege zum Heil — ergeben sich zwangsläufig aus dem Wesenskreis, sobald Gott als logische Wahrheit und als das parmenidische Sein verstanden wird.

  • Der Voluntarist erfährt die Wahrheit im steten Zweifel an sich selbst, im Versuch der Überwindung seiner Sinnlichkeit;
  • der Intellektualist als Übereinstimmung seiner Denkstruktur mit der Wirklichkeitsstruktur, der er seine Entscheidungen unterordnet.
  • Der Nominalist erfährt die Wahrheit als Übereinstimmung zwischen Beobachtung und Theorie, nimmt also den modernen Wissenschaftsbegriff vorweg,
  • und der Realist erlebt das Bewusstsein als gerichtete Intention, als nach einer bestimmten Vollendung strebend.
Voluntarismus
wollen
Nominalismus
empfinden
SEIN
Intellektualismus
denken
Realismus
fühlen

Zu diesen vier Richtungen der ontologischen Auffassung, die im Sein die Wahrheit erfährt, trat der mystische Weg der Augustiner in Gegensatz, der die Wahrheit als intensiven Zustand im Sinne eines Läuterungsweges gleich dem Yoga verstand; sein höchstes Ziel, die Kontemplation, ist mit dem Samadhi identisch. Wesentliche Vertreter dieses Weges waren Hugo von Sankt Viktor, 1097-1141, und Richard von Sankt Viktor, der 1173 starb.

Eine Sonderrolle spielte Raymundus Lullus aus Mallorca, der von 1233 bis 1315 lebte. Seine Lehre, die als Ars Magna bekannt wurde, war eine Kombinatorik im chinesischen Sinn. Er schuf eine Denkmaschine, auf der in sieben konzentrischen Kreisen alle philosophischen Begriffe angebracht waren; alle Probleme ließen sich mittels dieser logischen Maschine durch mechanische Verschiebungen lösen. Diese Richtung kam erst in der neuzeitlichen Philosophie mit Leibniz und Descartes zur Geltung.

Der Universalienstreit wurde von Franziskanern und Dominikanern weitergetragen. Auf franziskanischer Seite trat Bonaventura, 1217-1274, der als Kind vom heiligen Franz von Assisi geheilt worden war, als Nachfolger des Anselm auf. Er kommentierte die Sentenzensammlung von Petrus Lombardus und begründete eine Lichtmetaphysik, für die die Erleuchtung Augustins den Ausgangspunkt darstellte; es gelte das innere Licht, den Wesenskern, aus der Sinnesverhaftung in die Gotteswahrheit, in das Urlicht zu überführen; doch nicht auf dem Weg der Erkenntnis, sondern echt franziskanisch auf dem Weg der liebenden Hingabe, in der die Seele die Braut Christi ist — eine Vorstellung, die in der späteren Mystik ihre Vollendung fand. Der etwas ältere Alexander von Hales, der seit 1231 zum Franziskanerorden gehörte, arbeitete dagegen ein Kompendium des theologischen Wissens seiner Zeit unter dem Titel Summae Universae Theologiae aus, in welchem philosophische Schlüsse, kirchliche Autoritäten und theologische Dogmen Seite an Seite dargestellt wurden. Immer bildete eine Frage den Ausgangspunkt und wurde dann, nach Berücksichtigung aller möglichen Einwände aus den drei Quellen, bis zur letzten Schlussfolgerung durchformuliert.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
6. Das scholastische Denken
© 1998- Schule des Rades
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