Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

6. Das scholastische Denken

Thomas von Aquin

Die Synthese Albert des Großen war für die damalige Zeit und den Bildungsstand zu umfassend, als dass sie sich hätte durchsetzen können; der Lieblingsschüler von Albertus Magnus, Ulrich von Strassburg, führte sie in einfacherer Form weiter. Nach ihm verschwand sie aus dem öffentlichen Bewusstsein in die zahllosen esoterischen und alchemistischen Schulen und Bewegungen der Neuzeit und führte ein Schattendasein, immer wieder von der katholischen und später auch von der protestantischen Orthodoxie bedroht. Der andere Schüler des Albertus Magnus, Thomas von Aquin, beschränkte dagegen seine Summen unter Ausschluss des astrologischen und alchemistischen Denkens auf die Ideen, die der bisherigen lateinischen theologischen Entwicklung zugrunde lagen.

Das Universalienproblem vereinfachte Thomas auf folgende Weise:

  • die universalia ante rem sind als Erzeugungsprinzipien der Wirklichkeit zu betrachten,
  • die universalia post rem als deren nachträgliche Beschreibung.
  • Zwischen beiden stehen als universalia in re die kontingenten Dinge selbst, deren Begriffe den sermones des Abaelard entsprechen.

Als zweites unterschied Thomas zwischen Offenbarungswahrheiten und Vernunftwahrheiten, die im Verhältnis von Gnade zu Notwendigkeit, Übernatur zu Natur stehen:

  • was immer sich wissenschaftlich begreifen lässt, unterliegt den Gesetzen der Vernunft und ist auf aristotelische Weise rational zu bestimmen.
  • Doch Gott, die Dreieinigkeit, die Inkarnation und Auferstehung Christi gehören der Offenbarung zu — sie sind nicht über das Denken zu verifizieren, sondern nur über den Glauben zu erleben.

Den Begriff des Fatums lehnte Thomas ab:

  • erstens sei Fatum ein heidnisches Wort und daher nicht in der christlichen Theologie zu verwenden.
  • Zweitens aber habe Gott jeden einzelnen Menschen erschaffen und mit dessen Möglichkeiten auch sein Verhalten vorausgewusst. Dieses bleibt dem Menschen unzugänglich, nur Gottes Gnade kann ihn zum Heil erlösen.

Das Verhältnis von Vernunftwahrheit und Offenbarungswahrheit in der Ethik wird mit Thomas durch die natürlichen und göttlichen Tugenden bestimmt.

  • Natürlich seien Weisheit, Mäßigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit;
  • zur Gnade gehören Glaube, Hoffnung und Liebe, die übernatürlichen, von Gott eingegossenen Tugenden.

Der natürliche Mensch strebe nach Betätigung — dies wieder im aristotelischen Sinn — und finde in ihr sein Glück; doch wahre Freude und wahre Vollendung sei erst in der Kontemplation, in der ewigen Schau Gottes zu erreichen, welche der erlösten Seele im Jenseits zuteil wird, doch die der Mensch durch Übung schon im Leben gewinnen kann. Voraussetzung hierzu ist ein gläubiges, frommes und tugendhaftes Leben, zu welchem die evangelischen Räte Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam eine Hilfe, aber keinerlei Garantie bildeten.

Thomas nahm außer den beiden Arten des Wissens der Offenbarung und Vernunft noch eine dritte an, die intuitive, die Offenbarung zum Wissen werden lasse. Diese Gedanken entwickelte er nicht weiter; an ihnen knüpften die späteren Mystiker an.

Die Vernunftwahrheit wird über die Dialektik bestimmt, welche Thomas über seine Analogien erklärte:

  • wahr ist etwas, das mit der Erfahrung übereinstimmt, also der äußeren Wirklichkeit; was ferner mit der Sprachstruktur übereinstimmt, also der Möglichkeit.
  • Falsch ist ein Satz dann, wenn er einem der beiden Kriterien, der Erfahrung oder der Grammatik, widerspricht.
  • Hierzu tritt noch die systematische Wahrheit, die Abstimmung der Begriffe aufeinander in der adaequatio, dass nämlich jeder Begriff mit jedem anderen in widerspruchsfreier Beziehung steht.

Grundlegend für die thomistische Metaphysik wurden die beiden Begriffe Form und Materie. Thomas unterschied inhärente und subsistente, anhängende und für sich existierende Formen.

  • Bei den körperlichen Dingen einschließlich der Pflanzen und Tiere besteht das Wesen aus Materie und inhärenter Form, der Entelechie.
  • Die Menschen sind die einzige Gattung, bei der die Materie mit einer subsistenten Form verbunden ist, die auch ohne Leib existieren kann.

Die Menschenseele bildet die niederste Art subsistenter Formen; über ihr stehen die Engel als reine Intelligenzen und zuoberst Gott als die absolute Form, dies in Nachfolge des Dionysius Areopagita.

Gott ist lautere wirkende Energie, also nicht Potentialität, sondern reine Aktualität, actus purus. Er existiert vermöge seiner Wesenheit, also notwendig. Er hat in sich die Vollkommenheit des Seins, ist absolut einfach. Als solcher hat er keine Eigenschaften; wenn wir ihm Vollkommenheiten zulegen, so geschieht dies deswegen, weil wir ihn bald unter diesem, bald unter jenem Gesichtspunkt betrachten. Eine adaequate Erkenntnis Gottes ist unmöglich, da er nicht nur absolute Intelligenz, sondern auch absoluter Wille ist. Alles andere bedarf zu seiner Existenz einer Ursache, nur das Sein als solches nicht.

Den anselmschen deduktiven Beweis Gottes aus der steigenden Vollkommenheit der Begriffe lehnte Thomas ab. Stattdessen nahm er fünf induktive Beweise an:

  • von der Existenz der Bewegung auf einen ersten Beweger;
  • von der Existenz selbst auf eine transzendente Ursache;
  • von der Zufälligkeit der Dinge auf ein notwendiges Wesen;
  • von der Vollkommenheit der Dinge auf ein absolut vollkommenes Wesen, das der Maßstab aller Vollendung ist,
  • und von der Zweckmäßigkeit der Natur auf ein höchstes, zwecksetzendes und daher intelligentes Wesen als ihren Ursprung.

Dass die Schöpfung besteht, ist ein Glaubensartikel. Die Ewigkeit der Welt wäre ebenso denkbar. Wir erfahren die Schöpfung also aus der Offenbarung als verwirklichte Möglichkeit. Die Erkenntnis ist der Welt der Tatsache zugewandt. Diese werden aber nicht als solche, sondern als species, als Gattungen oder Elemente erkannt; species als Gedankenformen sind also nicht das Objekt des Denkens, sondern das Erkenntnismittel; sie sind Intentionen, Richtungen des Bewusstseins auf einen Gegenstand. Die Tatsache, dass er existiert, wird über die Reflexion, also die drei Formen des Urteils (Identität, Widerspruch, ausgeschlossenes Drittes) ausgemacht, die zur dritten Analogie gehören. Damit wird die Kluft zwischen objektiv-formalem Intellekt und subjektiv-materialer Erfahrung überbrückt. Auch Gott als actus purus ist nur zu erschließen; dies im Gegensatz zu den Franziskanern, die im Sinne der augustinischen Erleuchtung eine intuitive Gotteserkenntnis vertraten.

Die Leistung des Thomas war nicht wie bei Albertus Magnus die Darstellung einer ursprünglichen Vision, sondern eine geniale systematische Durchdringung des gegebenen Wissens. Ihm ging es darum, die Dogmen der Kirche mit den anerkannten Vernunftswahrheiten in adaequatio zu setzen, um vor allem im Kampf gegen die Fremdgläubigen des Islams und der griechischen Orthodoxie ein sicheres Fundament zu haben. Da nun die lateinische Sprache auf dem juristischen Denken fußt und die Gesetze der dialektischen Schlussfolgerung in ihr eine stärkere Wirksamkeit haben als der Sinngehalt der Begriffe selbst — also der axiomatische begriffliche Satz über dem einzelnen, intuitiv zu erfassenden und zu verstehenden Urbegriff stand, der das Wesen der griechischen Philosophie bestimmt hatte — war seine Synthese von Dogmen, Autoritäten und Denkschlüssen im Sinn einer juristischen Abhandlung mit Argumenten pro und kontra und einem abschließenden endgültigen Urteil durchformuliert.

So bedeutet Thomas eigentlich den Abschluss einer Entwicklung. Sein Hauptwerk hatte auch einen apologetischen Titel: es hieß Summa contra Gentiles, war also gegen die Heiden abgefasst. Dennoch ist mit Thomas das scholastische Denken noch nicht am Ende. Unter den Fittichen seines Systems entfalteten sich zwei neue Denkrichtungen: einerseits der franziskanische Nominalismus im Gegensatz zu ihm, der zum englischen Empirismus führte, und andrerseits die deutsche Mystik, die in die Reformation mündete.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
6. Das scholastische Denken
© 1998- Schule des Rades
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