Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

7. Das humanistische Denken

Alchemie

Nicht minder wichtig als die Wandlung des theologischen Denkens war die Neubegründung des esoterischen, vor allem der Medizin-Philosophie bei Paracelsus. Um aber seine Leistung würdigen zu können, müssen wir zuerst die alchemistische Entwicklung seit der alexandrinischen Epoche nachzeichnen. Ihr letzter Systematiker war der christliche Gnostiker Cosimos gewesen. Nach ihm blieb die hermetische Kette geheim; nur die Namen der Nachfolger sind bekannt. Der Alexandriner Stephanos soll Lehrer des Heraklios gewesen sein, der von 575 bis 641 lebte. Da inzwischen Ostrom alle Philosophie und auch die Alchemie verboten hatte, ging die Entwicklung im islamischen Bereich weiter. Sein Schüler Morienus, ein Christ, übergab das geheime Wissen dem Kalifensohn Chalid, der gegen 660 geboren wurde und 704 in Damaskus starb. Dessen Schüler war Gafar, der die gesamte Kenntnis der alexandrinischen Tradition besessen haben soll. Er war wiederum Lehrer des berühmten Geber, der der erste Systematiker der Alchemie auf Grund der Kabbala wurde.

Geber wurde um 720 geboren und starb um 810. Er gehörte dem Sufiorden an. Mit ihm fand das alchemistische System seine Form, die es bis zu seiner Verdrängung durch die moderne Chemie behalten sollte. Wir werden dieses nun in seinen Grundzügen beschreiben, so wie es vom Fatimiden-Kalif El Hakim um 1000 dargestellt wurde.

Das Ziel der Alchemie ist die Gewinnung eines Stoffes: des Lapis oder der Tinktur, mit der jeder Gegenstand in Gold zu verwandeln sei, das, wie erinnerlich, die prima materia des Aristoteles bilden sollte. Der Ausgangspunkt des Wandlungsprozesses waren zwei Stoffe, die die aristotelischen Qualitätspaare am reinsten spiegeln: Quecksilber-mercurium als Sinnbild des Silbers und des Mondes als weiblichem Prinzip mit den Qualitäten feucht und kalt; und Schwefel-sulphur als Sinnbild des Goldes und der Sonne als männlichem Prinzip mit den Qualitäten heiß und trocken. Nicht die natürlichen Elemente Quecksilber und Schwefel, sondern hypothetische Elemente scheinen der Ausgangspunkt der Wandlung gewesen zu sein. Es ist anzunehmen, dass Geber einerseits die chinesische Alchemie mit dem Yin-Yang-Prinzip einbezog, andrerseits aber das Enneagramm der Bruderschaft Sarmoun als Grundfigur der Elementenordnung betrachtete. Die neun Ziffern waren für ihn als Kabbalisten der Ursprung aller qualitativen Erkenntnis. Wenn wir nun unsere heutige Kenntnis von den chemischen Elementen, also das periodische System, nach dem Enneagramm gliedern, dann käme zur Zahl 7 mit dem Planeten Mars der Naturschwefel, dessen periodische Gruppe als letztes das Uran enthält, das für alle heutigen Wandlungen den Ausgangspunkt bildet, und ferner den Sauerstoff als Grundlage der Verbrennung. Die Reihe mit der Zahl 2 hingegen, der Venus zugeordnet, enthält die Elemente Quecksilber und Magnesium; letzteres ist der Kern des Chlorophylls-Moleküls, das die Grundlage aller pflanzlichen energetischen Wandlungsprozesse bildet.

Dass es manchen Alchemisten gelungen sei, mittels ihres Quecksilbers und Schwefels und der im siebenstufigen Prozess gewonnenen Tinktur Elemente in Gold zu verwandeln, behaupten unzählige Augenzeugenberichte. Wir kennen heute nur die Möglichkeit der Elementarverwandlung durch Uran U 236, bei welchem die Strahlungsenergie über den Kernzerfall frei wird, und andrerseits die Fähigkeit des Chlorophyll, Strahlungsenergie des Sonnenlichtes für die Synthese der Kohlenwasserstoffe zu verwenden. Die Alchemisten dagegen glaubten an die Einheit von Seele, Lebenskraft und Energie; und vor allem daran, dass die Mitwirkung eines geläuterten Menschen allein die Herstellung der Tinktur ermögliche, dass also seine Konzentration die aktive Rolle im Zustandekommen des Magnum Opus bilde.

Bis ins 17. Jahrhundert blieb Gebers Theorie unangetastet. Ihre psychologische Bedeutung steht außer Frage: die Läuterung der Metalle entspricht der Läuterung des Menschen, ja der deutsche Begriff Läuterung entstammt dem alchemistischen Wortschatz. Das große Werk vollzieht sich über sieben Stufen, wobei in der ersten Schwefel und Magnesium dem Gold zugefügt werden und der Verbrennung obliegen, in der mittleren vierten erneut drei Elemente hinzukommen, wobei jetzt nach dem Nachfolger Gebers, Rasis, das Salz die aktive Rolle spielt, sodass der mittlere Prozess sechs Komponenten hat; als siebte Stufe wird die Tinktur erreicht, die mit der Grundzahl 9 symbolisiert wurde.

A l p h y s i k

So enthält der alchemistische Weg des großen Werkes sieben Stufen. Ausgangspunkt ist das Gold; wohl nicht das Naturelement Au 57, sondern eine gesättigte Verbindung als Symbol der Sonne. Endziel ist ein verwandeltes Gold, das die Fähigkeit haben soll, andere Stoffe in Gold umzuwandeln. Symbolisch ist der Ausgangspunkt das Einhorn und das Ziel das Rote Wasser, der Rote Löwe, der Lapis oder die Tinktur.

Die sieben Stufen stehen unter dem Zeichen gegensätzlicher Planeten und haben folgende Ordnung:

1.  Merkur
2.  Jupiter
3.  Mond
4.  Saturn
5.  Venus
6.  Mars
7.  Sonne
calcinatio
sublimatio
solutio
putrefactio
distillatio
coagulatio
extractio et projectio

Die chemischen Vorgänge wurden geheim überliefert, und oft führen die Bezeichnungen irre. Doch die psychologische Bedeutung ist klar.

  • In der ersten Stufe, calcinatio, werden dem Gold, das vorhanden sein muss, Quecksilber und Schwefel beigefügt und in der Verbrennung zu einem neuen Körper verbunden. Dies bedeutet, mittels der Urteilskraft alle männlichen und weiblichen Impulse zu entfalten, zu scheiden und dann als dem Wesen zugehörig zu erkennen.
  • Die zweite jupiterische Stufe, sublimatio — Veredlung, wird durch den Phönix symbolisiert. In ihr wird das Verbrannte als Sublimat eingefangen und gefestigt. Psychisch bedeutet dies die Identifikation mit dem allein, was im Wesen vergeistigt wurde.

Doch ist es nur geistig; dem Verstehen fehlt die Triebgrundlage, die die Basis des nächsten Schrittes bildet. Die dritte Stufe wird im Zeichen des Mondes vollzogen: der nichtsublimierte Rest wird geweißt, gesilbert und damit beseelt.

  • Die mittlere Stufe ist die erneute Verkörperung. Beide Extrakte, das geistige Sublimat und das seelische, aus der solutio entstandene Filtrat werden dem Urstoff zugemischt.
  • Im Initiationsweg des kosmischen Denkens brachte die vierte Stufe die Unterscheidung von gut und böse. Hier handelt es sich im Sinnbild der putrefactio, des saturnischen Verwesungsprozesses darum, dass alles Todgeweihte absterben muss; die erneuerte Seele und der erneuerte Geist werden dann wiederum der Wirklichkeit ausgesetzt.
  • In der fünften Stufe wird der Vorgang der Reinigung im Zeichen der Venus über die distillatio vollzogen: das gesamte Erzeugnis der vierten Stufe wird verflüssigt und abgetropft. Hier soll der Stoff die verlebendigende Kraft erhalten. Wird diese Stufe als letztes Ziel betrachtet, so ist das Ergebnis die Silbergewinnung der weißen Rose, die kleine Initiation in der Überwindung des Hüters der Schwelle der Traumwelt.
  • Wird das Werk fortgesetzt, so muss das Silber erneut mit der Kraft des Schwefels vereint werden: die sechste Stufe coagulatio unter dem Zeichen des Mars ist das mysterium conjunctionis. Bildlich wird es dargestellt als geschlechtliche Vereinigung des Königs mit der Königin, im doppelköpfigen Löwen und Adler, im Hermaphroditen, oder im Paar von Einhorn (Jungfräulichkeit) und Hirsch (kosmisches Bewusstsein — Geweih als kosmische Antenne). Mit diesem Zustand ist die persönliche Reife erreicht und die Geschlechtskraft gemeistert.
  • Die letzte Stufe, die siebte unter dem Zeichen der Sonne, bedeutet die extractio des alchemistischen Goldes, das auf andere Metalle projiziert werden kann und auch diese in Gold verwandelt. Im Yogaweg entspricht ihr der Samadhi. Psychologisch ist dies die eigentliche Berufung, die Große Initiation mit der Überwindung des Hüters der Tiefschlafschwelle: erst der Mensch, der in seinem Inneren die Essenz des Goldes, den einheitlichen und unzerstörbaren Willen und die Liebeskraft gewonnen hat, kann auch anderen Führer zum großen Werk sein. Doch bevor die Arbeit beginnt, muss die Tinktur oder der Stein noch in einem weiteren zwölffachen Prozess fixiert werden, der einen Sonnenlauf um den Tierkreis beansprucht.

Auch die sieben Stufen haben eine zeitliche Ordnung; sie dürfen nur bei Konjunktion von Sonne und Venus durchgeführt werden. Diese Konjunktionen beschreiben innerhalb von acht Jahren einen genauen Fünfstern am Tierkreis; das mysterium conjunctionis als sechste Stufe wird nach dem achten Jahr erreicht, wenn der Ausgangspunkt des Fünfsternes wieder berührt wird, anschließend folgt dann der zwölfgliedrige Weg der Fixierung der siebten Stufe. So vollzieht sich das Magnum Opus in einem Zeitraum von neun Jahren. Dass diese Ordnung tatsächlich durchgespielt wurde, zeigt ein jüngst entdecktes illuminiertes böhmisches Passional König Wenzels aus dem 14. Jahrhundert. Dort werden die Stufen mann-weiblich dargestellt, wobei ihrer gemalten Anordnung die planetarische Konstellation, wie Steyskal gezeigt hat, als geometrische Struktur zugrundeliegt.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
7. Das humanistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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