Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Prager Esoterik

Spinozas Substanzphilosophie war aus einem Guß, wobei sie allerdings viele Tatbestände willkürlich vereinfachte; er teilte alles mit, was er meinte. Sowohl Descartes als auch Leibniz hielten mit ihrem Wissen zurück; sie veröffentlichten nur den Teil, den sie für ihre Zeitgenossen als verständlich und gegenüber den herrschenden Mächten als ungefährlich erachteten. Doch diese Geheimhaltung hatte auch einen anderen Grund. Beide standen in Kontakt mit den esoterischen Schulen, die seit der Renaissance in ganz Europa entstanden waren und in Prag unter Kaiser Rudolf II. eine neue Synthese gefunden hatten.

Den Schwerpunkt dieser Synthese bildete die Kabbala. Im Mittelalter war diese hauptsächlich von den Juden vertreten worden, nachdem im 12. Jahrhundert der spanisch-jüdische Philosoph Moses Maimonides ihr System erweitert hatte, indem er ihr arabische, alchemistische und medizinische Kenntnisse einverleibte, diese jedoch im Sinne der jüdisch-gnostischen Tradition umwandelte. Zufolge jener hat Gott nach dem Fall Adams den schöpfungsmächtigen oder weiblichen Teil seiner Urkraft, die Schechina, in die Natur versenkt, von wo aus sie über Mitwirkung des Menschen wieder den Weg zu Gott zurückfinden soll. Durch Ordnen der Naturerscheinungen nach den neun arabischen Urprinzipien, die zusammen mit der Zehn als Prinzip der Sonne die Sefiroth oder Schöpfungskräfte bilden, gelingt es dem Menschen, in seinem Bewusstsein zum Ursprung der Wortbildung vorzustoßen. Wie für die Alchemisten alle Materie aus den aristotelischen Essenzen feucht, trocken, warm und kalt als Mischung von Schwefel, Quecksilber und Salz gebildet ist, doch im Golde fußt und sich nach ihm zurücksehnt — ein alchemistischer Spruch des Paracelsus lautete Alles Metall meint Gold, wie alles Gras den Weizen, alle Blume die Rose und alles Tier den Menschen — so sah der Kabbalist in jedem Wort, das wirklich den Namen eines Dinges oder einer Wesenheit bezeichnet, also den Zugang zu ihm eröffnet, eine bestimmte Kombination der neun Zahlenkräfte, die aber allein über die Verbindung mit der Urkraft, mit der Null als Gottesprinzip zu beherrschen sei.

Es hat viele kabbalistische Systeme gegeben. Die Araber kannten achtundzwanzig Buchstaben, der Tarot und das jüdische Alphabet enthielten zweiundzwanzig; die deutsche Kabbala, der Futhork, welcher in der Bauhütte auf Grund des gotischen Alphabets ausgebildet wurde, hatte dagegen achtzehn Runenzeichen. Wie ist es nun möglich, dass den doch augenscheinlich verschiedenen Zahlenzuordnungen, zu denen noch die zahllosen asiatischen Systeme traten, die gleiche Wirksamkeit zugesprochen werden konnte?

Die Lösung dieses Problems liegt nicht in der besonderen Verbindung von Zahl und Buchstabe, sondern in der Tatsache, dass die gebräuchlichen Worte, die das gewöhnliche Bewusstsein bestimmen, durch Rückbeziehung auf die Prinzipien in der kabbalistischen Praxis zum Gegenstand werden, der Mensch sich also aus seinen Sprachassoziationen löst. Gelingt ihm dies, so erreicht er das Urlicht als Ursprung seines Bewusstseins, das innere, lebendigmachende Wort, das für den Kabbalisten die gleiche Rolle spielte wie der Lapis oder die Tinktur für den Alchemisten und die Überwindung der Planetenkräfte mittels der Sonne für den Astrologen.

Kabbala und Alchemie blieben in ihren Grundzügen zwischen Geber und Maimonides und der Zeit des Rationalismus unverändert. Zwar wurde die experimentelle Grundlage der Alchemie durch die immer wiederkehrenden Versuche des Goldmachens, das für den echten Alchemisten niemals Ziel, sondern nur Begleiterscheinung sein durfte, gewaltig vermehrt, bis sich die experimentelle Chemie mit Robert Boyle, dem Zeitgenossen von Leibniz, endgültig aus der Alchemie löste. Die dritte gnostische Richtung, die Astrologie, erlebte unter dem Einfluss der kopernikanischen Revolution eine wesentliche Wandlung, die ihren wahren, im ptolemäischen System noch überdeckten Sinn freilegte: nicht die Erde, sondern die Sonne ist das Zentrum unseres Systems; ebenso ist nicht der Körper oder die Psyche, auch nicht die Einbildungskraft, sondern der Wesenskern der Träger der menschlichen Individualität, der durch Erkenntnis der planetarischen Impulse und ihrer Aspekte freizulegen ist.

In Prag kam es nun zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter Kaiser Rudolf II. zu einer Verschmelzung der gnostischen Traditionen: die Alchemisten Hayek, Dee, Maier, Kelley, der jüdische Kabbalist Rabbi Loew und die Astrologen Tycho Brahe und Johannes Kepler traten 1601 unter dem Vorsitz des Kaisers zu einem Gespräch zusammen, um eine Synthese zu erreichen.

Von Anfang an unterschied sich Böhmen in seiner Entwicklung sowohl von den romanischen und germanischen Ländern als auch von den übrigen Slawen und den Ungarn. Die erste christliche Missionierung erfolgte nicht von weströmischer Seite, sondern einerseits durch die johanneischen irischen Mönche, andrerseits durch Cyrill und Method aus Ostrom. Da sowohl die Iren als auch Ostrom die neuplatonische Theologie im Sinne des Dionysius Areopagita bewahrt hatten, kam es hier zu einer Verschmelzung zwischen dem altslawischen kosmischen Denken, das in seiner Grundlage dem indischen und persischen nahe verwandt war und dem christlichen Glauben, der im alexandrinischen Sinn in das astrale Schema eingeordnet wurde. Gott wurde tschechisch als Swet, als Urlicht verstanden. In jeder Materie, jedem Ding und auch jedem Wesen sei dieses Urlicht gleichsam eingesperrt; der Mensch habe die Aufgabe, es durch Läuterung zu befreien. Ferner sei es das Anliegen aller Kunst, diese Beziehung zum Urlicht zu veranschaulichen, und die Pflicht der Fürsten und Könige, dafür zu sorgen, dass die Regierung im Rahmen der kosmischen Koordinaten erfolge, sodass jedem die Möglichkeit offen gehalten werde, seinen eigenen Läuterungsweg zu finden.

Wir haben also im tschechischen Denken einen neuen Zugang zur Transzendenz. Im lateinischen und griechischen Denken kam dieser in Alexandria über die Theosophie nach Ablehnung des Mythos durch den Logos zustande; und nur dank der Astrologie war es gelungen, wenigstens die mythischen Bilder dem theologischen Schema einzuordnen. Die germanischen Völker erlebten den christlichen Glauben als mythische Herrschaftsablösung, als Götterdämmerung; Christus hatte sich im Kampf als der Stärkere erwiesen. In Böhmen dagegen bildete das kosmische Weltbild von den Přemysliden über die Luxemburger bis zu Rudolf II., der sich ganz in diese Tradition als Kaiser einfügte, den strukturellen Rahmen der Gesellschaftsordnung. Dieser kannte drei Stufen: religiös ist Christus mit den Aposteln das Sinnbild der Läuterungswege; im menschlichen mittleren Bereich sorgen Kaiser und Kaiserin für die Übereinstimmung von kosmischer Ordnung und Menschengemeinschaft; ihre Aufgabe ist also eine harmonisierende; und als unterste Stufe wurden die Arbeiten der Erde wie einst in China nach dem Jahreskreislauf gegliedert. Noch heute zeigt die Uhr am Rathaus zu Prag diese dreigegliederte Ordnung.

Im Schutz und unter der Toleranz dieses kosmischen Denkens entfalteten sich nun in Prag die individuellen esoterischen Wege im Radkreuz: der Achse des Wachens entsprach der Empfindungsweg der Alchemie; der Achse des transzendentalen Wollens die Kabbala, das Durchstoßen der Wertvorstellungen bis zu ihrem Ursprung; die Achse der Vorstellung, des Denkens wurde von der neuen heliozentrischen Astrologie des Tycho Brahe eingenommen und die Achse des Traumes, der Mystik durch die neue Bibelinterpretation im Sinne Meister Eckharts, der selbst mehrere Jahre in Prag gelehrt hatte.

Kabbala
Tiefschlaf
Alchemie
Wachen
Rudolf
Mystik
Traum
Astrologie
Reflexion

Unter der Schirmherrschaft des Kaiser Rudolf II., der einerseits die astrale Herrscherrolle fortsetzte, andrerseits aber den vier gnostischen Richtungen gegenüber aufgeschlossen war, kamen diese zum ersten Mal seit Alexandria wieder ins Gespräch und erreichten eine Synthese, die auch heute noch in der esoterischen Tradition als das große Treffen der Meister bezeichnet wird.

Rudolf II. konnte seine Haltung zu Lebzeiten trotz der gegenreformatorischen Einflüsse bewahren; unter seiner Herrschaft war Prag das unbestrittene geistige und weltliche Zentrum Europas. Doch mit Ferdinand II. wurde die Selbständigkeit Böhmens zerstört und die kosmische Ordnung vernichtet. Nach der Schlacht am Weißen Berge 1620 wurden der tschechische Adel und das Bürgertum, soweit sie sich nicht der Rekatholisierung anpassten, aus Böhmen vertrieben, das fortan zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen schwedischen Protestanten und katholischen Reichsheeren wurde.

Mit dem Ende der Prager Esoterik ging ihr Erbe in die neuen Geheimbünde ein:

  • die Pansophen des Ámos Komenský, dessen Schwerpunkt auf der Erziehung lag,
  • die Freimaurer, die sich der Ordnung der Gesellschaft zuwandten;
  • die Illuminaten, denen die Erringung des Urlichtes als natürlicher Religion, doch im Sinne der Kabbala, am Herzen lag, und schließlich
  • die Rosenkreuzer, welche versuchten, wissenschaftliches und religiöses Streben, die Rose als Sinnbild der Naturentfaltung und das Kreuz als Sinnbild der Läuterung zu vereinen.

Im Jahre 1612 verkündete in ihrem Auftrag Valentin Andreae ihr Anliegen in der Fama Fraternitatis: die Rosenkreuzer leiteten sich von der islamischen Esoterik, den Sufis und Derwischen ab. Auch diese hatten die Wandlung vom objektiven zum subjektiven Denken inzwischen vollzogen.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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