Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Englische Naturwissenschaft

Die deutschen Theosophen fanden in ihrem Jahrhundert keine Nachfolge; erst im Idealismus gewannen sie eine neue Bedeutung. Der Anstoß zur weiteren geistigen Entwicklung kam aus der englischen Philosophie, die sich im Gegensatz zur kontinentalen Substanzphilosophie entfaltete.

Ihr Begründer war eigentlich Robert Boyle, 1627-1692, der, wie schon erwähnt, den Übergang von der Alchemie zur experimentellen Chemie vollzog, indem er von der aristotelischen Materievorstellung auf die demokritische zurückging. Anstatt nach der materia prima, dem Gold zu suchen, prüfte er die tatsächlich unterscheidbaren Stoffe. Von ihm stammt der Begriff Element, wie er heute noch in der Chemie verwendet wird.

Diese Wendung zur experimentellen Naturwissenschaft hatte auch andere Denker ergriffen: Gilbert hatte sein berühmtes Buch über den Magnetismus 1600 veröffentlicht, Harvey seine Entdeckung über den Blutkreislauf 1628. Newton, 1643-1727, hatte die Physik mit seiner Entdeckung der Schwerkraftgesetze auf eine selbständige Basis gestellt; so löste sich das naturwissenschaftliche Denken immer mehr von der Philosophie. Alle diese Denker blieben im religiösen und ethischen Bereich unkritisch; sie gehörten größtenteils zu den Rosenkreuzern. Ihre Haltung gegenüber der Kirche reichte vom Skeptizismus und praktischer Ethik und dem schon erwähnten Deismus bis zur Mystik und kabbalistischen Bibelausdeutung, wie sie auch Newton pflegte, der übrigens eine große Periode seines Lebens mit alchemistischen Experimenten zur Goldherstellung verbrachte.

Seine Entdeckung der Infinitesimalrechnung, die zu dem zitierten Streit mit Leibniz führte, wandte er nicht auf philosophische Probleme an. Die Gültigkeit des Denkens beschränkte sich für ihn auf die natürlichen Phänomene und der kategoriale Rahmen war weiterhin einerseits durch die Scholastik und andrerseits durch die kontinentale Substanzphilosophie umrissen. Das Denken blieb noch objektiv. John Locke, der erste reine Empirist, vollzog nun die Wandlung von der objektiven zur subjektiven Philosophie bis in ihre letzten Konsequenzen.

Die alexandrinische Gnosis ist durch die christliche Theologie verdrängt worden, die Prager Esoterik und die deutsche Theosophie durch den englischen Empirismus. Zwar blieb die Kraft der Rosenkreuzer, Illuminaten und vor allem der Freimaurer bis zur Zeit der französischen Revolution in den Geheimbünden ungebrochen; das Wort Aufklärung bezog sich ursprünglich nicht auf die Gedankenwelt Voltaires, sondern auf die Illuminaten und ihre Lichtmetaphysik. Doch das selbständige Denken verließ diese Bewegungen; sie glichen sich immer mehr dem kirchlich-rituellen Vorbild an. Die Philosophie Lockes dagegen gewann eine ungeheure wissenschaftliche und staatspolitische Bedeutung; sowohl die wesentlichen Ideen der französischen Revolution als auch die Ideologie der antipuritanischen englischen Revolution von 1688 und die spätere amerikanische Verfassung sind auf seinen Vorstellungen begründet.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
HOMEDas RAD