Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

8. Das rationalistische Denken

Immanuel Kant

Immanuel Kant wurde 1724 als Sohn eines Sattlers bei Königsberg geboren. Bis zum sechzehnten Lebensjahr besuchte er eine der Gelehrtenschulen, vom siebzehnten bis zweiundzwanzigsten Lebensjahr die Universität Königsberg. Den Abschluss dieser Studien bildete seine erste Schrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte 1747. Die nächsten Jahre lebte er als Hauslehrer bei verschiedenen ostpreußischen Familien. 1755 habilitierte er sich an der Universität, woselbst er bis zu seinem Tode 1804 lehrte. 1781 erschien seine Kritik der reinen Vernunft, 1788 die Kritik der praktischen Vernunft, 1790 die Kritik der Urteilskraft, und als Abschluss 1793 Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, welche Bücher seine epochale Bedeutung begründeten.

Kant stammte aus einer schottischen Familie. Vielleicht hat seine Herkunft ihm das Verständnis für die empirische englische Philosophie erleichtert, die sonst in Deutschland keine Aufnahme fand. Sein Werk bedeutet die Synthese der beiden rationalistischen Richtungen: der Substanzphilosophie von Descartes, Spinoza und Leibniz und des Empirismus von Locke, Berkeley und Hume. Er selbst bezeichnete die erste Richtung als dogmatisch, die zweite als skeptisch und seine eigene als kritizistisch. Für sie wählte er später den Namen transzendentaler Idealismus. Von den folgenden idealistischen Philosophen unterschied ihn das Ziel seiner Bemühung, die Grenzen des Denkens abzustecken und Metaphysik als Lehre von der Vernunft selbst zu entwickeln.

Das Wort ratio wurde in der Philosophiegeschichte manchmal mit der Urteilskraft gleichgesetzt, manchmal mit dem Verstand als Vermögen des Erklärens, manchmal auch mit der Vernunft. Im 19. Jahrhundert setzte sich allgemein im Sinne Kants der letztere Gebrauch durch. Kant nahm folgende Triade des Denkens an:

  • Sinnlichkeit oder allgemeine Rezeptivität als Grundlage der Erfahrung;
  • darüber Verstand als das Vermögen, Erscheinungen vermittels von Regeln spontan zu verbinden,
  • und als höchstes die Vernunft selbst als das Vermögen, die Verstandesregeln unter Prinzipien zu ordnen.

Dies ist eine neue Formulierung der cusanischen Triade. Doch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Denkern. Cusanus und die Philosophen der Substanzphilosophie betrachteten ihre Begriffe als Beschreibung des Innenbaus der Welt, als ratio essendi und ratio cognoscendi. Kant hingegen beschränkte sich auf die ratio cognoscendi, die Epistemologie oder Erkenntniskritik; er zweifelte an der denkerischen Erkennbarkeit jedweder Substanz. Das Denken könne nicht ausmachen, ob etwas existiere oder nicht. Existenz sei kein Prädikat eines Subjekts. Zwischen hundert möglichen und hundert wirklichen Talern bestünde in der denkerischen Definition kein Unterschied; erst die Erfahrung könne diesen erweisen. Daher bleibe die Substanz für das Denken unerkennbar; das Ding an sich entziehe sich aller Erkenntnis, nur die Erscheinung — wohl zu unterscheiden vom Schein — sei zu erkennen. Kant zweifelte nicht an der Wirklichkeit der Erscheinungswelt. Er wollte nur die Grenzen des Denkens innerhalb der Wirklichkeit abstecken und seinen Missbrauch verhindern.

Wie Kant berichtete, erweckte ihn das Studium der Schriften von David Hume aus dem dogmatischen Schlummer. Hume hatte eindeutig dargestellt, dass das Ich als beharrende Substanz im Denken mit seinen vielfältigen Assoziationen nicht zu finden ist; was der Mensch entdeckt, sind immer nur Bündel von Empfindungen. Kant war nun in der leibniz-aristotelischen Metaphysik in ihrer wolffschen Systematisierung aufgewachsen; so bedeutete die humesche Skepsis eine Befreiung seines Denkens aus dem vorgegebenen und verhärteten Schema. Er geißelte die traditionelle Metaphysik in der negativen Kritik von Swedenborgs Träume eines Geistersehers; die traditionelle Ontologie hätte nicht mehr Anspruch auf Wahrheit als die persönlichen Träume dieses Sehers. Doch diese Entsubstantialisierung machte ihn nicht zum Gegner der Erreichnisse des dogmatischen Rationalismus; im Gegenteil, sie ermöglichte ihm, deren Begriffe in neuer und überzeugender Form dem Denken einzuordnen.

Descartes hatte als Kriterien des Denkens die beiden Postulate der Klarheit und Deutlichkeit aufgestellt und ihre Wechselbeziehung an Hand seiner analytischen Geometrie erklärt. Kant verwandelte sie in Zeitworte, um die Denkvorgänge selbst zu erfassen: anschauen und begreifen, als Hauptworte Anschauung und Begriff. Sein Grundsatz lautete: Anschauungen ohne Begriffe sind blind, Begriffe ohne Anschauungen sind leer.

Unter Anschauung verstand Kant die geometrische Veranschaulichung. Damit etwas verstanden werden kann, muss es sowohl anschaulich im Bilde erfasst als auch begrifflich und damit syllogistisch verdeutlicht werden.

  • Mathematisch entspräche die Anschauung der Geometrie, das Begreifen der Arithmetik;
  • sinnlich die Anschauung dem Sehen und das Begreifen dem Hören,
  • und formal die Anschauung dem Raum und das Begreifen, das sich im Nacheinander vollzieht, der Zeit.

Schließlich bestimmt der Raum die äußere Erfahrung und die Zeit die innere Erfahrung, wodurch die kartesische Zweiweltenlehre im erkennenden Subjekt ihre Synthese fand. So sind Raum und Zeit nicht objektive Gegebenheiten der Natur, sondern subjektive Formen der Erfahrung.

Raum und Zeit bilden die Koordinaten des untersten Erkenntnisvermögens, der Sinnlichkeit oder Apprehension. Doch wenn Erscheinungen — von Dingen an sich können wir im Denken ja nichts ausmachen — sich zusammenfügen, dann bilden sie für die Erkenntnis ein Wissen. Dieses Wissen kommt über Urteilsschlüsse zustande, die zwei Formen haben: analytisch und synthetisch, deutsch Erläuterungsurteile und Erweiterungsurteile.

  • Ein Erläuterungsurteil ist zum Beispiel der Syllogismus; er beruht letzten Endes auf dem Satz der Identität: ein Ding wird infolge seiner Gleichheit einem anderen übergeordnet.
  • Erweiterungsurteile sind solche, wo zwei Glieder des Denkens ein neues, bisher nicht bestehendes erzeugen.

Urbild der synthetischen Urteile ist für Kant die Mathematik. Der Satz 7 + 5 = 12 könnte analytisch aufgefasst werden, wenn man ihn vom Begriff des Zählens ableitet. Doch wenn man die geometrische Veranschaulichung zur Hilfe nimmt, so ist es klar, dass das Zwölfeck eine neue Gestalt verwirklicht, die sich aus den beiden Formen des Fünfecks und Siebenecks nicht ableiten lässt.

Beide Urteile sind nach den verschiedenen Richtungen der Erfahrung und der Theorie, nach Wirklichkeit und Möglichkeit

  • als Urteile a posteriori (im Nachhinein)
  • und Urteile a priori (im Vorhinein) geordnet.

Analytische Urteile sind zum Beispiel: der Kreis ist rund; alle Körper sind ausgedehnt; Gold ist ein Metall. Das Prädikat bezeichnet hier ein Merkmal, das schon im Subjektbegriff enthalten ist. Wollte man das Urteil verneinen, so würde man sich selbst im Denken widersprechen.

Es gilt also unabhängig von der Erfahrung allgemein und notwendig, mithin a priori, aber es löst nur ein Merkmal aus dem Subjektbegriff heraus, oder es stellt Beziehungen zwischen Begriffen fest; es erläutert dadurch Begriffe, es erweitert aber nicht unsere Erkenntnis von Gegenständen. Die meisten synthetischen Urteile hingegen sind a posteriori: viele Gefäße sind rund; manche Körper sind hart, Gold wird in Südafrika gefunden. Hier werden Gegenständen Prädikate beigelegt, die in ihrem Begriff noch nicht enthalten sind; und zwar geschieht dies in den Urteilen auf Grund der Erfahrung.

Die wesentliche Frage aber ist, wie man synthetische Urteile a priori fällen könne. Dass die Mathematik solche beinhaltet, hatte Kant am obigen Beispiel gezeigt. Doch dieses bleibt rein formal. Die analytischen Sätze sind begrifflich durch die Sätze der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten bestimmt; die synthetischen bedürfen außerhalb der Mathematik eines anderen Prinzips zu ihrer Begründung. Dieses Prinzip fand Kant in seinen zwölf Verstandeskategorien, die er folgendermaßen gliederte:

der Quantität nach
Einheit, Vielheit und Allheit
der Qualität nach
Realität, Negation und Limitation
der Relation nach
Substantialität und Inhärenz Kausalität und Dependenz Gemeinschaft und Wechselwirkung
der Modalität nach
Möglichkeit und Unmöglichkeit Dasein und Nicht-Dasein Notwendigkeit und Zufälligkeit

Unter diese sind die Urteilsarten angeordnet:

  • die Quantität gliedert sich in Einzelurteile, besondere (partikulare oder plurative) und allgemeine;
  • die Qualität in bejahende, verneinende und unendliche;
  • die Relation in kategorische, hypothetische und disjunktive; und
  • die Modalität in problematische, assertorische und apodiktische.

Die Kategorien und Urteilsarten haben folgende Bedeutung:

  • Die quantitativen unterscheiden sich in die Einzelurteile, die sich syllogistisch auf einen einzelnen Gegenstand beziehen; einen Namen, dessen Bereich sie bestimmen und abgrenzen. Die besonderen (partikularen und pluralen) Urteile beziehen sich auf Merkmale, die gemeinsam sind, ohne in der Quantität festgelegt zu sein. Die allgemeinen Urteile gehen vom Begriff der Allheit aus.
  • In der Qualität beziehen sich die Urteile auf die Realität, wenn sie bejahend sind. Sie erweisen Nichtrealität in der Verneinung, und zeigen als unendliche oder begrenzende Urteile Begriffe als Rahmen, in den alles Gegebene fallen muss, wie etwa der Begriff des Apeiron bei Anaximander.
  • Die Relationen, die Beziehungen, gliedern sich in kategorische Urteile mit den beiden Begriffen der Substantialität und Inhärenz, die Subjekt-Attribut-Beziehung oder Subjekt-Prädikat-Beziehung wird mit ihnen erfasst. Hypothetische bestimmen das Verhältnis von Grund und Folge, Ursache und Wirkung und die disjunktiven Urteile, Gemeinschaft und Wechselwirkung, erkennen das zusammenfügende Gesetz und die trennbaren Elemente in einem gegebenen Zusammenhang.
  • Die letzten Urteile bestimmen die Modalität ob etwas besteht. Problematische erweisen Möglichkeit und Unmöglichkeit, assertorische, behauptende, beziehen sich auf Dasein und Nichtsein der Tatsachen, und apodiktische Urteile zeigen Notwendigkeit oder Zufälligkeit.

Wie lassen sich nun die Kategorien auf die Welt der Anschauung und der Erfahrung anwenden? Kant entwickelte folgende Tafel der Grundsätze des reinen Verstandes, welche die Regeln zum objektiven Gebrauch der Kategorien bestimmen.

Zur Quantität gehören die
zur Qualität gehören die
zur Relation gehören die
zur Modalität gehören die
Axiome der Anschauung,
Antizipationen der Wahrnehmung,
Analogien der Erfahrung und
Postulate des empirischen Denkens.

Sofern sie auf Anschauung gerichtet sind, bezeichnet Kant die Regeln als mathematisch, wenn sie auf das Dasein gerichtet sind, als dynamisch.

Zu den Axiomen der Anschauung wählt Kant ein einziges Prinzip:

  • Alle Anschauungen sind extensive Größen.

Alle Anschauung verlangt einen Raum und eine Zeit, in der eine Vorstellung sich vollziehen kann. Eine extensive Größe ist für Kant jene, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht. Ihr mathematisches Gesetz ist die Geometrie. Das Prinzip der Antizipation der Wahrnehmung ist:

  • In allen Erscheinungen hat das Reale, was ein Gegenstand der Empfindung ist, intensive Größe, das ist einen Grad.

Extensiv ist für Kant jenes, was aus Teilen zusammengesetzt ist, intensiv jenes, was als Einheit und Ganzheit auf die Empfindung wirkt, wie wir etwa den gleichen Ton stärker und schwächer empfinden können.

Das Prinzip der Analogien der Erfahrung ist:

  • Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmung möglich.

Dies ist eine klare Definition, die in drei Analogien erläutert wird: erstens der Analogie der Beharrlichkeit der Substanz; zweitens der Kausalität, der Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Wie für Hume waren auch für Kant beide Gesetze Regeln des Verstandes, also auch im Sinne der kartesischen Methode; wie immer es um ihre Wirklichkeit bestellt sei, wir müssen sie verwenden, sonst können wir überhaupt keine wissenschaftlich gültigen Schlüsse aus der Erfahrung ziehen. Die dritte Analogie begreift den Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetz der Wechselwirkung und Gemeinschaft: alle Substanzen, sofern sie im Raum als zugleich wahrgenommen werden, sind in durchgängiger Wechselwirkung. Es handelt sich also bei den Analogien um eine weitere Ausführung der Kategorien nach kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteilen.

Auch die letzten Grundsätze sind nach den drei Urteilen geordnet. Die Postulate des empirischen Denkens lauten:

  • Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und dem Begriff nach) übereinkommt, ist möglich.
  • Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich.
  • Wessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig.

Die Grundsätze bedürfen keiner Erläuterung; sie entsprechen den Analogien des Thomas von Aquin, wobei der Satz vom Widerspruch und dem ausgeschlossenen Dritten zur letzten Form gehört.

Über Anwendung der Relationsurteile auf die Vernunft, die unendlichen Prinzipien, ergeben sich die drei Vernunftideen, welche die Grundlage der traditionellen Metaphysik und Ontologie gebildet haben: Seele, Welt und Gott.

  • Der Begriff der Seele oder der Substanz ist die kategoriale Synthese; etwas wird deduktiv als solches und als Bestehendes vorausgesetzt, also der bestimmte Mensch in seiner Fähigkeit der Spontaneität.
  • Die hypothetische Synthese bezieht sich auf die Welt; sie umfasst den Begriff der raumzeitlichen Wirklichkeit in der Totalität und Einheit der Bedingungen aller Erscheinungen. Anders ausgedrückt: Um die Welt als gegeben zu begreifen, muss man eine Totalität von Kausalreihen annehmen, wenn man sie auch nie bis zu ihrem Anfang zurückverfolgen kann.
  • Die dritte Vernunftidee, Gott, bestimmt die disjunktive Synthese der Teile in einem System; Gott als ens realissimum, als Ursprung und Bindeglied des Seins, der die Welt erschafft und zusammenhält.

Alle drei sind Voraussetzungen des Denkens, die sich aber auf dialektische Art nicht erweisen lassen. Dies war nun die entscheidende Leistung der kantischen Kritik: es gibt keine Möglichkeit, aus dem Denken heraus Wahrheit oder Falschheit der unendlichen Vernunftideen zu bestimmen. Man kann zeigen, dass sie möglich und durchführbar sind.

Ob sie aber wahr sind, das zu ergründen steht außerhalb der Kompetenz des Denkens. Versucht man solch eine unendliche Voraussetzung mittels des Satzes vom Widerspruch zu erhärten, so ist das Ergebnis eine Antinomie: gegensätzliche Thesen lassen sich beweisen. So ist der Beweis für die Unendlichkeit der Welt ebenso bindend wie für ihre Endlichkeit in Raum und Zeit. Man kann sich unendlichen Raum nicht als Gegebenheit vorstellen, ebensowenig endlichen; unweigerlich kommt dann die Frage, was dahinter liegt. Das gleiche gilt auch für die Zeit; selbst für die Freiheit der Einzelursache und die absolute Determination lassen sich lückenlose gegensätzliche Beweisketten anführen. Bei der Idee der Welt nahm Kant die obigen Schlussfolgerungen zuhilfe. Bezüglich Gott zeigte er die Falschheit der traditionellen Gottesbeweise, und bezüglich der Seele als menschlichem Subjekt deckte er die sogenannten Paralogismen auf: die Ichvorstellung lässt sich nie, wie schon Hume nachwies, als Teil oder Ganzes in den Assoziationen feststellen. Dennoch müssen wir vom Menschen als Person sprechen, wenn wir sein Wesen und sein Verhalten verstehen wollen. So lässt sich die Wahrheit der Vernunftideen nicht erweisen; es gilt sie hinzunehmen. Die Vernunft hat bestimmte Grenzen, über die sie nicht hinauskommt; der Philosoph hat die Aufgabe, diese abzustecken. Diese Aufgabe glaubte Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft endgültig gelöst zu haben.

Die vier Antinomien sind die letzte Anwendung der vier Urteilsschlüsse; dass sie sowohl positiv als auch negativ zu beantworten sind, ist ein weiterer Beweis für die Gültigkeit des cusanischen Schemas, bei dem wie erinnerlich Vernunft gleich intellectus negativ, Sinnlichkeit gleich sensorium positiv, und Verstand gleich ratio positiv und negativ zugleich bestimmt wurden.

Auf Grund der Kritik der reinen Vernunft wurde Kant von Moses Mendelssohn zum Alleszermalmer erklärt, gleichsam zum König der skeptischen Revolutionäre. Doch dies lag keineswegs in seiner Absicht. Er wollte, wie er sagte, das Wissen begrenzen, um dem Glauben Platz zu schaffen. Wer aus dem Denken Gott oder die Seele erweist, der geht ihrer verlustig, weil er sich der möglichen Erfahrung verschließt, da er die Wahrheit ja ohnehin zu besitzen glaubt. Kant wollte den Rahmen der Vernunft bestimmen, die, wie er erklärte, die Rolle der Polizei im Denken spiele, um zu den Fragen der Ethik vorzustoßen, denen von Anfang an sein wesentliches Interesse galt. Aus der reinen Vernunft lassen diese sich nicht lösen. Die Antinomien haben gezeigt, dass Gott, Seele und Welt nicht aus dem Denken zu erschließen sind: sie bilden Postulate der praktischen Vernunft, deren Kritik sein nächstes Hauptwerk gewidmet war.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
8. Das rationalistische Denken
© 1998- Schule des Rades
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