Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
9. Das idealistische Denken
Johann Gottlieb Fichte
Johann Gottlieb Fichte, der erste der idealistischen Philosophen, wurde 1762 in Ramenau in Oberlausitz geboren. 1791 kam er nach Königsberg, wo er sein Manuskript Versuch einer Kritik aller Offenbarung
Kant vorlegte und dessen Achtung und Zuneigung gewann. Das Buch erschien zuerst anonym, und viele hielten es für ein Werk Kants. Als der wahre Name des Autors bekannt wurde, machte es diesen mit einem Schlag berühmt. 1794 wurde Fichte Professor in Jena, musste aber unter Anklage des Atheismus seine Professur 1799 aufgeben. In Jena verkehrte er vor allem mit Schiller und wurde durch ihn mit der goetheschen Gedankenwelt vertraut. Anschließend ging er nach Berlin. 1805 erhielt er eine Professur im damals preußischen Erlangen. 1807 kehrte er nach Berlin zurück und hielt seine berühmten Reden an die deutsche Nation
. Seit Gründung der dortigen Universität war er Professor daselbst und arbeitete stetig an seinem System weiter. Er starb 1814 in Berlin.
Kant hatte den Bereich des Denkens auf die Erscheinungswelt eingeschränkt, leitete aber die Vernunft und ihre Prinzipien a priori aus dem Unendlichen ab, ohne weiter das Zustandekommen dieser Ideen prüfen zu können, da sie dem Verstand nicht zugänglich seien. Reine Vernunft und praktische Vernunft blieben für ihn getrennt, ihre Einheit bestand nur im erkennenden Ich. Diese Einheit hatte Kant statisch aufgefasst, etwa in der Vorstellung, dass der Mensch sich beim Beobachten selbst beobachte, also als linearer Regreß. Fichte entdeckte, dass diese Einheit nicht linear, sondern als dialektische Bewegung zu verstehen ist. So steht am Anfang der fichteschen Philosophie nicht das erkennende Subjekt, sondern, wie er sagt, die Tathandlung: das Ich als Substanz setzt aus sich heraus das Nicht-Ich. Bevor es dieses setzt, ist es absolut oder unbedingt; wenn es dieses gesetzt hat, dann hat es sich damit Schranken auferlegt. Indem es die Schranken als Schranken erkennt, befreit es sich von ihnen und gelangt wieder zu seiner ursprünglichen Unendlichkeit, die also nicht linear hinter dem beschränkten Ich als Apperzeption liegt, sondern durch die erneute Verneinung erreicht wird.
1. These 2. Antithese 3. Synthese |
A A Teil-A |
= ≠ = |
A non-A Teil-A |
Identität, unbegrenzt begrenzt Aufhebung |
Ich bestimmt durch Nichtich Theorie |
Ich bestimmend das Nichtich Praxis |
Diese Dialektik ist die Grundlage der folgenden philosophischen Entwicklung, daher gilt es sie genau zu verstehen. Als erstes muss man sich klar darüber sein, dass die Identität der Dialektik nicht Gleichheit im gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet, sondern Unterordnung einer Eigenschaft unter eine Substanz im Sinne des Syllogismus: wenn alle Menschen sterblich sind, so ist Sokrates sterblich. Sokrates und Menschen sind über das Sein verbunden, selbst aber verschiedene Begriffe. Die syllogistische Dialektik bezog jedoch die Wandlung nicht ein, was der fichteschen gelingt. Wir wollen dies an einem Beispiel verdeutlichen:
Ein Mann beschließt eine Skulptur zu gestalten. Vor diesem Entschluss hat er unendliche Möglichkeiten. Wenn es auch viele Anlässe dazu geben kann, so kann man doch nicht von einem zureichenden Grund dieses Entschlusses reden. Dies ist die These.
Wenn der Mensch nun das Bildwerk gestaltet, so ist diese Gestaltung und der Vorwurf zu ihr etwas, was nicht mit ihm identisch ist; ein Nicht-Ich, das er sich selbst aber zurechnet, indem er sich im Akt des Gestaltens mit ihm vereint. Dies ist die Antithese.
Der Vorgang der Gestaltung verlangt nun nicht sein ganzes Wesen, sondern nur einen Teil; seine sozialen Fähigkeiten etwa oder seine Bedürfnisse des Essens und Trinkens werden während des Prozesses nicht einbezogen. Erkennt der Mensch nun, dass das Teil-A des zu gestaltenden Objektes nur mit dem Teil-A des Gestalters in ihm identisch ist, so kann er sich von beiden lösen, den Gegensatz aufheben und damit in die ursprüngliche These seiner unendlichen Potentialität zurückkehren: das goethesche stirb und werde als Synthese.
Mathematisch ist die fichtesche Dialektik in ihrem Unterschied zum Syllogismus leicht zu bestimmen. Der Syllogismus unterscheidet das Falsche vom Richtigen über den Satz vom Widerspruch. Sein Urbild ist die Gleichung:
A=Aund≠non-A
Die fichtesche Dialektik hat dagegen zum Urbild die Abszisse des Koordinatenkreuzes der kartesischen analytischen Geometrie und zeigt die Beziehung von negativen zu positiven Größen:
–7 ······ 0 ······ +7
In der These hat der Mensch an der Unendlichkeit teil im Sinne der Nicht-Bestimmtheit, der Null. In der Antithese setzt er in unserem Fall +7
. Da er aus der Mitte 0 kommt, drängt ihn dieses +7
in dessen Gegensatz –7
. Wird er sich darüber klar, dass +7
und –7
(gestaltetes Bildwerk und bildnerische Tätigkeit) beide nur Teil-Wesen darstellen, so hebt sich das Ergebnis auf und er kehrt zur ursprünglichen Mitte zurück:
+7 –7 = 0
Die Gedanken zu dieser Dialektik hat Fichte wahrscheinlich der kleinen Schrift Kants aus dem Jahre 1763 entnommen: Versuch, den Begriff negativer Größen in die Weltweisheit einzuführen
.
Aus der Synthese führt nun sowohl das linke als auch das rechte A der Dialektik weiter: das linke, Ich bestimmt durch Nicht-Ich führt in die Theorie; denn der Mensch wird durch seine Erkenntnisse bestimmt und gewandelt, er ist ihnen unterworfen. Das rechte A Ich bestimmend das Nicht-Ich, führt in die Praxis, die Veränderung der Wirklichkeit.
Die Fähigkeit zum theoretischen Wissen ist im Menschen nicht als eingeborene Idee vorgebildet, sondern das Wissen entfaltet sich in einem sechsstufigen Prozess, den Fichte wohl dem Ritual seiner Freimaurerloge verdankt:
1. Empfindung
2. Anschauung
3. Bild
4. Verstand
5. Urteilskraft
6. Vernunft was man in sich findet
die davon abgezogen ist
die produktive Einbildungskraft
Bilder, zum Stehen gebracht im Begriff
Abstraktion — kann betrachten oder nicht
Selbstbewusstsein, von dem man nicht abstrahieren kann
Die Empfindung ist für Fichte Gegebenheit, das, was man in sich findet. Hieraus wird die Anschauung gebildet, die von den Wahrnehmungen abgezogen ist. Die Anschauung und die Empfindung vereinen sich mit der Erinnerung zur produktiven Einbildungskraft in Bildern, also in Assoziationsketten. Die Bilder werden im Sinne der kataleptischen Phantasie der Stoiker in Begriffen durch den Verstand zum Stehen gebracht. Ihrer Fülle gegenüber steht die Urteilskraft: man kann die einzelnen Gedankenketten betrachten oder nicht, kann von ihnen abstrahieren. Doch gibt es letztlich Gedanken, von denen man nicht abstrahieren kann. Sie bestimmen das Selbstbewusstsein und damit die Vernunft.
Der Entfaltung der Theorie steht die Entfaltung der Praxis gegenüber. Sie gründet sich auf die Antithese zwischen dem Trieb, der nach endlicher Befriedigung strebt wie etwa der Hunger, und dem Ich als unendliches Streben. Begrifflich äußert sich diese Zweiheit im Trieb mit dem Ziel der Lust und dem Geist mit dem Ziel der Freiheit. Aus der Vereinigung von beiden ergibt sich die Sittenlehre Fichtes, die zwei kategorische Imperative kennt: handle nach Gewissen!
und — erfülle deine Bestimmung!
Damit diese Imperative erfüllt werden können, hat der Staat folgende Urrechte zu garantieren:
- das Recht der Selbstbestimmung über den eigenen Leib
- das Recht auf Eigentum und Sicherheit
- das Recht auf Selbsterhaltung, also auf Arbeit
Voraussetzung der Wahrung dieser Rechte wäre der Rechtsstaat. Die Lehre vom Sich-selbst-setzenden-Ich, das aus sich die menschliche Wirklichkeit gebiert und im Vorgang dieses Gebärens zur vernünftigen Persönlichkeit erwächst, gab Fichte die Handhabe, aus der philosophischen Kontemplation in die dialektische Aktion vorzustoßen. Die theoretische und praktische Vollendung aller Ichs — als deren Rahmen er den geschlossenen Handelsstaat als Urbild der sozialistischen Gesellschaft beschrieb, den er später dann in seinen Reden an die deutsche Nation
auf den völkischen Staat einschränkte, denn unter dem Eindruck der französischen Fremdherrschaft wandelte er sich vom Kosmopoliten zum Nationalisten — geschehe in der Reifung zur Persönlichkeit und in der Vereinigung der Persönlichkeiten zum Rechtsstaat. Die Verwirklichung dieses Rechtsstaates als letzter Sinn der Geschichte beschrieb er nach den augustinischen fünf Stufen:
- Der Ursprung aller Geschichte ist vor der Bewusstseinsentfaltung: die Regelung der Gemeinschaft durch den sogenannten Vernunftinstinkt ohne Zwang und Mühe — augustinisch das Paradies.
- Schwächung dieses Instinktes, der sich nur noch wenigen Auserwählten offenbart, daher aristokratische Herrschaft — der Sündenfall.
- Das Abwerfen des Vernunftinstinktes und die Entdeckung der bewussten Vernunft. In diesem Zustand glaubte Fichte sich selbst und seine Zeit — das Kommen des Erlösers.
- Die Vernunft tritt in Gestalt der fichteschen Wissenschaftslehre verwandelnd in die Menschheitsgeschichte ein — das Jüngste Gericht.
- Zur Wissenschaft gesellt sich die Kunst als Praxis, welche die vernunftgemäße Einrichtung der Menschheit frei vollendet, womit diese als Gattung höhere Sphären der Wirklichkeit betritt — das Neue Jerusalem.
Fichte wirkte in hohem Maße anregend auf den romantischen Geist, besonders auf Friedrich Schlegel, 1772-1829, der das Ich durch das geniale Individuum ersetzte, welche Richtung in Nietzsches Übermenschen ihre Fortsetzung fand. Doch die tiefste Wirkung hatte er auf seinen jüngeren Freund und späteren Gegner Schelling, der ihn schon in seiner Jugend an Berühmtheit übertraf.