Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
9. Das idealistische Denken
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde 1770 in Stuttgart als Sohn eines Verwaltungsbeamten geboren. 1788-1793 studierte er Philosophie und Theologie in Tübingen. Anschließend wurde er Hauslehrer in Bern und 1790 in Frankfurt. Anfangs betrachtete er sich als Philosoph der schellingschen Richtung, hatte aber auch eingehend Kant, Fichte und die Substanzphilosophen studiert. 1802-1803 war er Mitherausgeber des Kritischen Journals der Philosophie und wirkte als Dozent in Jena zur Verbreitung der schellingschen Ideen. Langsam begann er sich innerlich von Schelling zu trennen, vor allem nachdem jener Jena verlassen hatte, und in seiner Phänomenologie des Geistes
1806 stellte er den Unterschied beider Systeme dar: er betrachtete seine Arbeit als Synthese von Fichte und Schelling in Vollendung der kantischen Kritik auf goethescher Grundlage. 1805 verließ er Jena, redigierte eine Zeit lang eine Bamberger Zeitung, wobei er sich außer philosophischen auch geschichtlichen und politischen Studien widmete. Von 1808-1818 war er Direktor eines Nürnberger Gymnasiums. Seit 1818 wirkte er dann als Professor an der Universität Berlin. Dort erschienen seine Hauptwerke, die Logik
und die Philosophie der Geschichte
. Er starb 1831 während einer Choleraepidemie.
Wie bei Fichte zerfällt auch das hegelsche Werk in zwei Richtungen. Während aber diese bei Fichte noch im kantischen Sinn als theoretisch und praktisch geschieden sind, teilen sie sich bei Hegel in subjektiv und objektiv. Subjektiv beschreibt die Phänomenologie des Geistes
die Entfaltung vom Bewusstsein bis zum absoluten Wissen, und objektiv die Logik, welche unter dem Titel Logik
die fichtesche Philosophie, unter dem Titel Natur
die schellingsche und als deren Synthese im Abschnitt Geist
die hegelsche Geschichtsphilosophie zusammenfasst, die objektive Entwicklung der Wirklichkeit.
Die Phänomenologie des Geistes hat folgende Stufen:
1. Bewusstsein2. Selbstbewusstsein
3. Vernunft 4. Geist
5. Religion
6. Absolutes Wissen
- Das Bewusstsein beginnt damit, dass man sich der Gegebenheit der Dinge als Sinnesdaten klar wird. Doch manchmal täuschen die Sinne. Es gibt in der Vorstellung also These und Antithese, Wahres und Falsches. Die Synthese wird im Verstand über das begriffliche Denken erreicht. Im Selbstbewusstsein tritt die Gewissheit der eigenen Existenz in den Vordergrund. Sie wird antithetisch als Unselbständigkeit und in der These als Freiheit verstanden. Diese Antithese bedeutet die Entfremdung des Menschen aus seinem ursprünglichen Sein, das unglückliche Bewusstsein.
- These und Antithese vereinen sich in der Wahrheit der Vernunft, die sich dreifältig gliedert: in der Beobachtung der Natur und ihrer selbst; in der Verwirklichung des Selbstbewusstseins und der Befriedigung der Triebe, und schließlich in der Individualität, in der die eigene Wirklichkeit erreicht wird.
- Der Geist gliedert sich in die Sittlichkeit als wahrer Geist, der sein Sollen kennt; als sich entfremdeter Geist, der in der Bildung fremden Vorstellungen untergeordnet ist und als Synthese in der Moralität, wo der Geist die Gewissheit seiner selbst erreicht.
- In der Religion ist die These die natürliche Religion oder Volksreligion, die Antithese die Kunstreligion, die der Mensch aus seiner Einbildungskraft erzeugt, und die Synthese die offenbarte Religion, die Natur und Kunst in der geschichtlichen Offenbarung vereint und rechtfertigt.
- Der Höhepunkt ist das absolute Wissen selbst, in dem der Mensch sich und die Menschheit als Entfaltungsprozess des Geistes dialektisch versteht. Dieses absolute Wissen entfaltet sich im logischen System, das folgende Struktur hat:
Logik | |
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1. Sein | a) werden — Qualität b) Quantität c) Maß |
2. Wesen | a) in sich, reflektiert, Denkgesetz b) Erscheinung, Form, Inhalt c) Wirklichkeit = Vernünftigkeit |
3. Begriff | a) allgemein — subjektiv, Syllogismus b) objektiv — Chemismus c) Idee — erkennen — absolut |
Natur | |
4. Mechanik | a) auseinander — Raum, Zeit b) Gravitation c) Bewegung |
5. Physik | a) Elektrizität b) Chemie c) Kohäsion |
6. Organik | a) Gestalt b) Reproduktion c) Assimilation |
Geist | |
7. subjektiver Geist | a) Anthropologie — Verleiblichung b) Phänomenologie — Vernunft c) Psychologie — Intellekt, Wille |
8. objektiver Geist | a) Recht — formal b) Moralität — Intention, Sollen c) Sittlichkeit — bürgerliche Gesellschaft |
9. absoluter Geist | a) der sich anschaut: Kunst, Klassik, Romantik b) der sich vorstellt: Religion c) der sich begreift: Geschichte, System |
Der Beginn der hegelschen Dialektik ist der Begriff des reinen Seins. Dieses ist jenseits der Existenz. Vom Dasein aus gesehen bedeutet das einen Mangel, ein Nichts. Das Sein ist inhaltsleer; es wird nur über die Existenz später einen Inhalt erreichen. Vom Gesichtspunkt dieses späteren Inhalts aus hat das Sein einen Mangel, ein Nichts, weil es eben keinen Inhalt hat. Doch ein Inhalt setzt notwendig mit seinem Erscheinen auch seinen Gegensatz, der nicht er selbst ist. Somit ist der Inhalt für das Sein eine Beschränkung; aus seiner Allgemeinheit und Universalität tritt es in die Vereinzelung und damit in die Entfremdung.
Die erste These ist formal das Sein, material das Nichts, die Antithese ist formal das Nichts, material jedoch die Qualität und damit die Beschränktheit. Die Qualität ist das Ansichsein, sie ist bestimmt und damit beschränkt; hier beruft sich Hegel auf den Satz von Spinoza: jede Bestimmung ist, von der Allheit gesehen, eine Verneinung. Doch diese Verneinung ist gleichzeitig das Dasein. Als Dasein tritt sie aus dem reinen Sein heraus, welches jenseits von Raum und Zeit steht: die Synthese von Sein und Nichts ist dialektisch das Werden, das sich im Entstehen und Vergehen verwirklicht.
Als seiende Bestimmtheit, gegenüber der in ihr noch nicht enthaltenen, aber von ihr als reinem Sein unterschiedenen Negation ist die Qualität als Realität zu bezeichnen; und sie selbst ist in Beziehung zum Anderen selbst wieder ein Anderes. So vollzieht sich aus der Urthese Sein — Nichts — Werden die Hervorbringung der Einzeldinge in die mannigfaltige Wirklichkeit. Das Etwas wird immer wieder ein Anderes, und da das Andere wieder ein Etwas ist, geht der Prozess unendlich fort. Formal logisch bleibt also die Erzeugung der Einzelwesen in einem ewigen Widerspruch stehen. Dasselbe Etwas ist in sich immer ein Etwas, gleichzeitig aber auch gegenüber dem Anderen, das selbst wieder ein Etwas ist, ein Anderes. Dies ist ein progressus ad infinitum. Die Lösung ist darin zu finden, dass das bestimmende Etwas, also das Synthese-schaffende Prinzip der Identität, entweder nur mit sich selbst zusammengeht oder mit dem Anderen verschmilzt. Dieses Subjekt der Identität, gleichsam das Erbe des reinen Seins, ist die einzig wahre Unendlichkeit in der Erscheinungswelt, wohl zu unterscheiden von der formalen Verstandesunendlichkeit von Raum und Zeit, die Kant in seinen Antinomien dargestellt hat und auch vom mathematischen Limes, jener Unendlichkeit, die den Übergang von einer Dimension in die nächsthöhere als qualitativen Sprung bestimmt.
Das Seinserbe bezeichnet Hegel als das Fürsichsein; es bedeutet die Negation der Negation, das Sein wird damit wieder hergestellt. Nicht die Form und der Inhalt, sondern die dialektische Bewegung, musikalisch gesprochen das Intervallische zwischen den tonalen Gegebenheiten, ist das Prinzip der Identität, die eigentliche Wesenhaftigkeit.
Das reine Sein erzeugt durch sein Nichtdasein im Werden die Qualität, die da ist. Dieser Qualität gegenüber ist die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit die Summe der anderen Qualitäten, ein Anderssein. Indem sich dann die andere Qualität als Negation wiedererkennt, erlangt das ursprünglich reine Sein — welches gegenüber der entstandenen Qualität ein Nichts bedeutete — die doppelte Negation. Aus der Mathematik lässt sich beweisen, dass diese doppelte Negation wieder eine Position ist: somit ist die Wahrheit der Wirklichkeit und die Erzeugung aus der Dialektik erwiesen. Die Dialektik ist nicht nur ein Mittel, um die Welt zu erkennen, sondern auch das Prinzip, das die Wirklichkeit gestaltet. In der Teilhabe an diesem Prinzip erreicht der Mensch seine eigene Identität, das Sein und damit die Teilhabe am Ursein. Er wird fähig zu wirken und die Welt zu gestalten, findet aber immer wieder zu sich selbst, zu seiner eigenen Idealität zurück. In ihr liegt das Wesen aller Philosophie begründet; denn Philosophie ist nur möglich, wenn Denken und Sein verschmelzen. Im Verschmelzungspunkt erreicht man den Ursprung des Kräftenetzes der Wirklichkeit: dies ist der Sinn des hegelschen Satzes, dass dasjenige, was wirklich ist, auch vernünftig sei. Vernünftig bedeutet logisch, und logisch bedeutet im Sein verwurzelt. Dieser Satz zeigt also sowohl genetisch als auch systematisch einen Ansatz, von dem aus die Welt philosophisch zu meistern wäre. Was bei Parmenides unerfülltes Postulat blieb — die Identität von Denken und Sein — wurde bei Hegel zur philosophischen Methode.
Das oben angeführte System bedeutet die konsequente Anwendung dieser Dialektik, die sich über drei Stufen verwirklicht: Logik und Natur vereinen sich zur geschichtlichen Entfaltung der Philosophie. Wie bei Kant hat auch bei Hegel nicht das gestaltete System weitergewirkt, dessen Einzelthesen sich auf Grund vorschneller wissenschaftlicher Verallgemeinerung als überholt erwiesen, sondern einerseits seine dialektische Methode und andrerseits seine Intention, Denken und Sein zu vereinen. Seine Schule spaltete sich in zwei Gruppen, die Rechtshegelianer und die Linkshegelianer. Die Rechtshegelianer folgten seiner Ordnung; sie versuchten evolutiv am Reiche der Idealität anzuknüpfen und den bestehenden Staat zu vergeistigen, die Linkshegelianer nahmen dagegen die Natur als These und die Logik als Antithese und vertraten eine revolutionäre Wandlung der Gesellschaft; ihr Anliegen fand erst im soziologischen Denkstil seine Verwirklichung.