Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
9. Das idealistische Denken
Hegels Nachfolger
Kant, Fichte, Schelling und Hegel fanden viele Kommentatoren in der nachfolgenden Entwicklung, aber auch Gegner. Friedrich Ernst Schleiermacher, 1768-1834, bemühte sich, die kantischen Erkenntnisse für die evangelische Theologie zu verwerten. Das Ganze setzte er als Gottheit, deren Teilhabe der Mensch in der Frömmigkeit als Erleben der Unendlichkeit erreicht, wobei er die Frömmigkeit nicht auf dem Denken, sondern in Nachfolge Hamanns auf dem Fühlen gründete. Anstelle des kantischen Idealismus lehrte er einen empirischen Standpunkt, den er als Realismus bezeichnete, welcher Begriff das Gegenteil des scholastischen Realismus meint: die Sinne offenbaren nicht nur den Schein, sondern auch das Wesen der Wirklichkeit; der Rezeptivität der Sinnlichkeit stünde die Spontaneität des Denkens gegenüber.
Johann Friedrich Herbart, 1776-1841, ein anderer Vertreter des neuen Realismus, widmete sich dem Durcharbeiten der Begriffe. Gleich Jakob Friedrich Fries, 1773-1843, waren seine eigenen Ideen zu seiner Zeit sehr anerkannt, bedeuteten aber keine originelle Leistung. Diese lag bei Herbart im Begriff der Hemmung als Schwelle des Unbewussten, einer Fortentwicklung der leibnizschen Vorstellung der petites perceptions: der Mensch könne keine Vorstellungen gleichzeitig bilden, die einander ausschließen; wegen der Einheit des Ichbewusstseins werde die gegensätzliche Auffassung verdrängt und könne nur mühsam nach Überwindung einer Schwelle wieder bewusst gemacht werden. Den Mechanismus dieser Hemmung und Schwelle versuchte Herbart mathematisch zu begründen und mit Zeitsummen in Beziehung zu setzen; hierin sah er einen Ansatz zu einer Phänomenologie des Gedächtnisses.
Eine mathematisierende Betrachtungsweise der Sinneswahrnehmungen brachte auch Gustav Theodor Fechner, 1801-1887. Er folgte der Naturphilosophie Schellings und behauptete in seinen Werken die Allbeseelung der Natur, den psychophysischen Parallelismus. Bekannt wurde er durch das Weber-Fechnersche Gesetz, dass die Sinnesreize nicht nach einfachen Graden, sondern in logarithmischer Reihe wahrgenommen werden: das Doppelte des Reizes, das Dreifache usw. wird jedesmal als einfacher Fortschritt wahrgenommen. Mit Hermann von Helmholtz wurde diese Betrachtungsweise aus der Philosophie herausgenommen und bildete fortan einen Teil des wissenschaftlichen Denkens.
Eine ganz andere Richtung, doch wiederum an Kant und Goethe anknüpfend, sollten die letzten großen Philosophen des Idealismus nehmen mit denen dieser Denkstil seine Vollendung fand: Schopenhauer, Kierkegaard, Feuerbach und Nietzsche.