Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
9. Das idealistische Denken
Søren Kierkegaard
Unabhängig von Schopenhauer ging der dänische Philosoph Søren Kierkegaard seinen Weg, auf dem er zum Begründer des Existentialismus wurde. Er wurde 1813 als Sohn eines Kaufmanns in Kopenhagen geboren. Nach Abschluss seines Studiums der Theologie dortselbst verlobte er sich mit Regine Olsen, brach jedoch die Verlobung ab und nahm auch keine Pfarrersstellung an, um ganz seiner selbstgestellten Aufgabe leben zu können. Einsam entwickelte er seine Philosophie in einem Don Quichotte-artigen Kampf gegen die Umwelt. 1841 hatte er noch die Hoffnung gehabt, vielleicht im Alterswerk Schellings eine Antwort auf die ihn beschäftigenden Fragen zu finden; doch dessen Vorlesungen in Berlin enttäuschten ihn. Er starb 1855, kurz nachdem er seinen stärksten Angriff gegen den Hegelianer Bischof Martensen, dem Nachfolger Mynsters als Primas der dänischen Kirche, vorgetragen hatte. Bis zuletzt lebte er vom Erbe seines Vaters; es reichte gerade noch aus, um seine Begräbniskosten zu bezahlen.
Martensen hatte Mynster nach dessen Tod als echten Wahrheitszeugen Christi im Bilde der Märtyrer Paulus und Petrus gefeiert. Kierkegaard dagegen geißelte dessen selbstzufriedene Bürgerlichkeit, in der er den ärgsten Feind eines wahren christlichen Lebens sah:
Das Christentum ist keine Lehre, sondern eine Existenzmitteilung; Christus hat nicht Dozenten angestellt, sondern Nachfolger.
Wie den anderen idealistischen Philosophen mit Ausnahme Schopenhauers ging es auch Kierkegaard um die Vereinigung von Denken und Sein, um das wahre Verständnis der Dialektik. Die objektive Erkenntnis, das Ideal der Wissenschaft, hielt er im Gegensatz zu Hegel für unwesentlich; all ihr Wissen gipfle in unverantwortlichen Sätzen, deren Prototyp die Gleichung 2 + 2 = 4 sei. Für das Individuum gehe es nicht um objektive, sondern um subjektive Wahrheit, um die echte Nachfolge Christi. Diese Nachfolge lasse sich nur durch die bewusste Annahme der Sünde im Sinne von Augustins Ablehnung aller Selbstgerechtigkeit erreichen. Kierkegaard vertiefte den augustinischen und kartesischen Zweifel zur existentiellen Verzweiflung: der Mensch erlebt seine Sündigkeit und ist durch diese Erkenntnis verzweifelt. In der Selbstgerechtigkeit ist er entfremdet. Nur in der Verzweiflung existiert er wirklich, erreicht er die Synthese von Unschuld und Sündigkeit, da sie ihn vom unverantwortlichen statischen erkenntnistheoretischen Ich in eine dynamische Existenz verwandelt, die den geistigen Weg des inneren Wachstums einschlägt.
Die Verzweiflung sei die Voraussetzung dieses Weges: Angst ist der Schwindel der Freiheit;
je weniger ein Mensch Geist habe, desto geringer sei auch seine Angst; doch je ursprünglicher er werde, desto größer werde auch sie.
Schopenhauer sah im Genie denjenigen Menschen, der von seinem Ursprung her die Ideen im Einklang mit dem Weltwillen in der Kunst verwirklicht; Kierkegaard beschrieb die Persönlichkeitswerdung vom intimen Pol her. Der Feind jeglicher Geistigkeit sei die Selbstzufriedenheit. Sie gelte es zu überwinden durch Aufsichnahme der Verzweiflung, die bei ihm die Rolle der Negation der Negation einnimmt.
Somit entstand im Gegensatz zu Hegel bei Kierkegaard eine persönliche Dialektik: das Individuum erzeugt sich selbst über den dauernden Kampf um seine echte Existenz, um die Intensität seines Leben. Alle Sicherheit des Denkens sei trügerisch, weil sie den Menschen zum Verweilen im Bestehenden verführt, und Stillstand sei Rückschritt — er führe ins Verderben. Nur in der echten Verzweiflung — der dialektischen Zweiheit von Streben und Trägheit — existiere der Mensch wirklich und finde auch schließlich die Gewissheit der Erlösung in Christus. Diese Existenz ist gleichsam eine dichterische Leistung, wie er selbst bekannt hat:
Ich nenne mich keineswegs einen Wahrheitszeugen, sondern nur einen Dichter und Denker eigener Art. Kommen die anderen Menschen in die Hölle, so komme ich mit, aber das glaube ich nicht. Ich glaube im Gegenteil, dass alle selig werden, und — was meine tiefste Verwunderung erregt — ich mit!
Kierkegaard brachte die Wendung vom essentiellen zum existentiellen Denken. Der nächste Philosoph, Ludwig Feuerbach, ging ebenfalls vom Verhältnis des Menschen zu Gott aus. Doch suchte er dessen Lösung nicht im inneren Zwiespalt, sondern in der Wandlung von der Theologie zur Anthropologie.