Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Politische Ökonomie

Das idealistische Denken widmete sich der Entfaltung der Dialektik und kreiste um das Verhältnis von dynamischer Individualität und rationaler Systematik, wie sich diese im Gegensatz von Kant und Goethe ausgeprägt hatte. Mit Ausnahme der schellingschen Naturphilosophie und der schopenhauerschen Lehre griffen alle Ansätze auf die Gestaltung der Gesellschaft über. Fichte leitete diese Entwicklung selbst ein; auf Hegel beriefen sich die Rechts- und Linkshegelianer, auf Nietzsche die biologischen Irrationalisten. So mündete das idealistische Denken von selbst ins soziologische. Doch hat es auch einen eigenen Ursprung: er wurzelte einerseits in der politischen Ökonomie von David Ricardo und Adam Smith, andrerseits in der französischen positivistischen Schule.

Die politische Ökonomie entstand durch Anwendung der empirischen Philosophie auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge. Adam Smith, 1723-1790, hatte in seinem Buch Enquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of People behauptet, dass die Förderung des Gemeinwohls sich ohne direkte Absicht verwirkliche, indem Menschen, die für egoistische Eigenziele arbeiten, aus der Natur der Wirtschaft gezwungen werden, sich ab einer gewissen Entwicklungshöhe moralisch positiv zueinander zu verhalten. Er vertrat eine eudämonistische Morallehre, die im Gegensatz zur kantischen Pflichtethik stand. Hegel hatte wahrscheinlich diesen Zusammenhang — Smith schrieb, dass der wirtschaftliche Mensch von einer unsichtbaren Hand dazu geführt wird, einen Zustand zu schaffen, der gar nicht im Bereich seiner unmittelbaren Absicht liegt — als Vorbild seines Begriffes der List der Vernunft genommen.

Nachdem die lockesche Staatstheorie sich nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika verkörpert hatte, trat die politische Ökonomie als Lehre des wirtschaftlichen gemeinsamen Verhaltens in den Vordergrund des englischen Denkens. Jeremy Bentham, 1748-1832, hatte das Ziel der Volkswirtschaft das Größte Glück der größten Zahl bezeichnet. Malthus’ Buch über die Grundlage der Bevölkerungspolitik und die Gefahr der schrankenlosen menschlichen Vermehrung, das 1798 erschien, und die Wirtschaftsprinzipien von David Ricardo, die 1817 veröffentlicht wurden, gaben der Nationalökonomie philosophische Tiefe. Mit John Stuart Mills A System of Logic, das 1843 erschien, fand der ökonomische Empirismus eine positivistische Methode: durch Zerlegung der Wirtschaftsvorgänge in Komponenten und die Erklärung aller Zusammenhänge aus Gesetzen, welche diese Komponenten miteinander verbinden, erkennt man auch auf dem Gebiet der Volkswirtschaft praktisch gültige Gesetzmäßigkeiten, die eine Vorausplanung ermöglichen.

Auch die Franzosen beschritten unter dem Einfluss der französischen Revolution, die gezeigt hatte, dass die traditionellen Mächte sehr wohl verändert werden konnten, den Weg zum soziologischen Denken. Henri de Saint-Simon, 1760-1825, erblickte im doppelten Prinzip der Arbeit und der Nächstenliebe die Grundlage einer vernünftigen Gesellschaftsordnung. Charles Fourier, 1772-1837, wollte dagegen als Grundprinzip der Nationalökonomie die Vernünftige Triebbefriedigung einführen. Es gelte beim Arbeiten immer das Triebziel im Auge zu behalten, welches auf seinem Umweg erreicht werden soll. Die entscheidende These brachte Pierre-Joseph Proudhon, 1809-1865, in seinen Schriften Was ist das Eigentum? und System der ökonomischen Widersprüche oder Philosophie des Elends. Berühmt wurde er durch seine Leitsätze Eigentum ist Diebstahl und Jedem nach seiner Leistung, jedem nach seinen Bedürfnissen. Er vertrat eine evolutive Dialektik. Am Anfang der Geschichte stehe die primitiv-kommunistische Gesellschaft; aus ihr entfalte sich als Antithese das Eigentum, das in seiner Wucherung die Menschen versklave. Dieses gelte es in der Synthese zu überwinden, wo dann Kleineigentümer — solche, die nur das zu ihrer Sicherung Notwendige besitzen — sich zur gemeinsamen Produktion in freier Assoziation zusammenschließen.

Die Begriffe Positivismus und Soziologie sind eine Prägung von Auguste Comte, 1798-1857, der auch die Bezeichnung Altruismus erfunden hat. Comte lehrte eine Stufung der Geschichte des Denkens: auf das ursprüngliche theologische Stadium folge das metaphysische, das die theologischen Mythen in Prinzipien auflöse. Diese werden wiederum durch das positive oder wissenschaftliche Stadium abgelöst, in dem der Mensch erkennt, dass ihm weder die metaphysischen Anfangsgründe und Substanzen, noch die Endziele gegeben sind, sondern nur die mittleren Beziehungen zwischen den Gegebenheiten der Erfahrung und der Vorstellung.

Die eigentliche positive Wissenschaft gliedere sich in sechs Stufen nach dem Grad der Komplexität: die Grundlage bildet die Mathematik. Auf ihr gründet die Astronomie, auf dieser die Physik. Dann kommt die Chemie, darauf die Biologie, und die Vollendung des Wissens bringt die Soziologie. Mit diesen Stufen suchte Comte auch die Religion zu ersetzen. Wenn die Menschheit den soziologischen Zustand — allerdings auf undialektische Weise über Erziehung und Ausbildung — erreicht haben werde, dann werde der Positivismus allumfassend und müsse sich wegen der rituellen Gefühlsbedürfnisse der Massen auch einen eigenen Kultus mit Priestern zulegen. Diesen Kultus entwarf Comte selbst bis in die letzten Einzelheiten; er besteht heute noch bei einer Sekte in Südamerika.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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