Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Soziologische Wissenschaft

Als Begründer der neuen wissenschaftlichen Soziologie gilt Émile Durkheim, 1858-1917. Dieser wollte die Soziologie als rein empirische Wissenschaft auf ein ethnographisch-historisches Tatsachenmaterial gründen, frei von vorzeitigen philosophischen Konstruktionen, unabhängig von der Biologie und auch von der Psychologie. Zwar seien die Individuen die Träger der geschichtlichen Entwicklung; es gebe keine überindividuelle Volksseele, keinen in der Geschichte sich entwickelnden überpersönlichen Geist im Sinne Hegels, aber durch das Gemeinschaftsleben entständen unbewusste Kräfte in den Menschen, die durch den Zwang, den sie auf das Denken, Fühlen und Handeln der Individuen ausüben, ihre soziologische Herkunft und Eigenart verraten. Es sei im Grunde sinnlos, nach dem Recht dieses Zwangs zu fragen, wie es die bisherige Philosophie getan hat — als hätten individuelle Wünsche und Wertungen überhaupt die Möglichkeit, sich jenem Zwang zu widersetzen — außer in dem Fall, wo eine soziale Entwicklungstendenz selbst auf seine Modifizierung drängt.

Gabriel Tarde, 1843-1904, ein anderer Nachfolger von Comte, zeigt in seinem Buch Les Lois de l’imitation, dass sich die meisten gesellschaftlichen Veränderungen nicht über den Zwang oder das bewusste geistige Verstehen, sondern über die Nachahmung fortpflanzen, im gleichen Sinne wie etwa eine Kleidermode übernommen wird. Dies erkläre die Herrschaft der verschiedenen Ideale der Menschheit von der spanischen Hombria im 16. Jahrhundert über den französischen Honnête Homme im 17. und 18. Jahrhundert bis zum englischen Gentleman im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Tarde stand im Gegensatz zu Durkheim. Eine ähnliche Richtung wie Tarde vertrat Lucien Lévy-Bruhl, 1857-1939: er behauptete, dass das Denken der Primitiven von dem unsrigen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden sei. Bezeichnende Züge dieses prälogischen Denkens seien die Gleichgültigkeit gegen das Prinzip der Identität und des Widerspruchs — der Angehörige eines Totemklans identifiziert sich mit dem Totemtier und ist zugleich von ihm verschieden — das Fehlen des Zufalls- und Naturnotwendigkeitsbegriffes: es gebe keinen natürlichen Tod; wer stirbt, sei absichtlich getötet worden. Und ferner die Identifizierung des Teils mit dem Ganzen, des Ähnlichen mit dem Ähnlichen: die gegen das Bild eines Menschen gerichtete feindliche Handlung wirke auf jenen selbst, und der Besitz eines Gegenstandes, der einem anderen gehörte, verleihe Macht über dessen Person.

Gustave Le Bon, 1841-1931 vertrat in seiner Psychologie der Massen die These, dass die Suggestion der ausschlaggebende Faktor des gesellschaftlichen Lebens sei: eine Menge von Menschen verliere die Ichhaftigkeit zugunsten einer Kollektivperson prälogischer Mentalität, die gleich einem Tier durch Reizangebot — also über Schlagworte, die Neid und Hass ansprechen — zu Handlungen mitgerissen werden könne, die jeder Einzelne für sich nie gutheißen noch vollbringen würde. Dies erklärt sich daraus, dass nur wenige Menschen zu einer Synthese ihrer Triebhaftigkeit mit ihrer Vernunft gelangen. Daher sei ihr durchschnittliches bürgerliches Verhalten, ihre Kultur und Zivilisation nur eine Folge der historischen Umstände; sie beruhe auf Gewohnheit und falle mit der Wandlung dieser Umstände sofort in die ursprüngliche Barbarei zurück.

Le Bon erklärte: wenn ein Seemann berichtet, er habe die große Seeschlange gesichtet, so könne man ihm Glauben schenken; wenn es dagegen eine ganze Schiffsbesatzung berichtet, so handelt es sich wahrscheinlich um Massensuggestion. Hiermit wurde eine weitere Illusion des 18. Jahrhunderts zerstört, dass nämlich die Assoziation von Menschen eine echte Summierung erwachsener und freier Persönlichkeiten bedeutet, die die Kraft ihres guten Willens, einmal aus den Ketten der feudalen Zivilisation befreit, nur noch zum allgemeinen Wohl verwenden würden; im Gegenteil: die Wahrscheinlichkeit des Rückfalls in die Bestialität liegt viel näher.

Ist aber die Aggressivität nur negativ zu bewerten? Liegt nicht in der Trägheit eine viel größere Gefahr als in der zeitweise wiederkehrenden Bestialität von Kriegen und Revolutionen? Aus diesen Überlegungen entwickelte Georges Sorel, 1847-1922 seine Gedanken über die Gewalt. Nur Ausnahmesituationen bringen den Menschen dazu, über sich selbst zu springen; so stellt sich die Frage, ob nicht das gefährliche Leben im Sinne Nietzsches einen kürzeren Weg zur Erfüllung der menschlichen Bestimmung darstelle als das Ziel des allgemeinen Friedens und der Sicherung des benthamschen Glücks der größten Zahl. Von außen gesehen entbehrt dieser Gedanke nicht der Plausibilität; doch im Unterschied zum religiösen Denken überwindet er nicht die Trägheit zugunsten der Geistigkeit, sondern einer Entfesselung der Triebhaftigkeit, wie die spätere faschistische Entwicklung gezeigt hat, deren Vertreter bewusst an Sorel anknüpften.

Aus der Übertragung des soziologischen Denkens auf die Geschichte entstand der Historismus, der alles, was es überhaupt je gegeben hat, kraft der Tatsache seiner geschichtlichen Wirkung als wissenschaftliche Gegebenheit auffasste. Die deutschen Soziologen Max 1864-1920, und Alfred Weber, 1868-1958, Werner Sombart, 1863-1941 und der Philosoph Georg Simmel, 1858-1918 untersuchten die Wechselwirkung zwischen geistigen Strukturen und sozialwirtschaftlichen Tendenzen. So zeigte Max Weber die innere Verwandtschaft des amerikanischen Kapitalismus mit den calvinistisch-protestantischen Sekten. Wer im 19. Jahrhundert keiner Sekte oder Kirche angehörte, war nach herrschender Auffassung nicht kreditwürdig; hieraus entstand in Amerika die seltsame Zweiheit von minister and merchant als Pfeiler der Gesellschaft, von Pfarrer und Kaufmann, die die frühkapitalistische Entwicklung prägten. Die wissenschaftliche Soziologie enthielt sich aller Werturteile; von Max Weber stammt das berühmte Wort, dass Wissenschaften wertfrei zu bleiben hätten.

Demgegenüber vertraten sowohl der Marxismus als auch der amerikanische demokratische Individualismus eine soziologische Auffassung, in der die Erkenntnisse dieser Wissenschaft einer Zielsetzung dienten: der erstere, um im Klassenkampf die Diktatur des Proletariats als Vorbedingung der Befreiung des Menschen zu erreichen; und der zweite, um alle Kasten- und Klassenschranken abzubauen, welche die freie Individualität an ihrer Entfaltung hindern. Stärker als diese beiden erwies sich aber in Mitteleuropa eine dritte Richtung, der Nationalismus, der seinen Höhepunkt im italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus fand.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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