Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Nationalismus

Der Nationalismus war ein Ergebnis der französischen Revolution. Während bis zum offiziellen Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 die Vertreter der beiden reichstragenden Stände, die Priester und der Adel, sich über die nationalen Grenzen hinaus solidarisch gefühlt hatten, sodass Meister Eckhart ohne weiteres in Paris, Prag oder Köln lehren konnte oder der Savoyerprinz Eugen in kaiserliche Dienste trat, wurde mit beginnender Herrschaft des dritten Standes die gemeinsame Struktur zerstört. Das seelische Zugehörigkeitsgefühl, die Loyalität fiel dank der vorhergehenden historischen Entwicklung nicht bis auf die Ebene der Familie, sondern bis auf den sprachlich-völkischen Zusammenhang zurück. Der napoleonische Versuch eines überstaatlichen französischen Imperiums musste scheitern, da er keine historischen Wurzeln hatte; Frankreich hatte sich ja im Namen der Nation gegen das Reich entwickelt. Die deutsche Erhebung von 1813 hatte einen romantischen Charakter, die von 1848 folgte bürgerlichen Idealen; auch in ihr blieb das nationale Element romantisch. Mit Bismarck in Deutschland und Cavour in Italien erhielt die sprachliche Loyalität die Oberhand über die Stände; es kam zur staatlichen Einigung im Rahmen der gleichen Sprache.

Bei Bismarck blieb der Nationalismus durch seine persönliche evangelische Frömmigkeit ausgeglichen; er erfüllte das vom staatsmännischen Gesichtspunkt bestmögliche Gleichgewicht der Kräfte. Aber schon während seiner Herrschaft löste der Nationalismus seine religiöse Verbindung mit dem Christentum und tiefere mythische Quellen der germanischen Vorzeit kamen zum Durchbruch. Seit Fichte gab es kombattante Nationalisten wie den Turnvater Jahn, Ernst Moritz Arndt, Paul de Lagarde und in Österreich Schönerer, die ihre Auffassung als Religion verstanden und immer weitere Kreise des Groß- und Kleinbürgertums in ihren Bann zogen. Die Bewegung griff schließlich auf die Massen der Arbeiterschaft über: es galt die Klassenschranken, das letzte Überbleibsel der mittelalterlichen Ordnung, einzuschmelzen. Im italienischen Faschismus entstand die erste sozialistische Bewegung, die nicht wie der Marxismus international, sondern völkisch gesinnt war; und während Mussolini das Werk von Cavour im Geiste Sorels zu vollenden suchte, indem er anstelle der partikularistischen Loyalität eine nationale und heroische forderte, erstrebte Adolf Hitler das Gleiche, doch im bewussten Rückgriff auf die mythisch-völkischen Untergründe.

Mussolini ließ sich noch mit den normalen soziologischen Kategorien bestimmen. Mit Hitler brachen jedoch atavistische Seelengründe auf, die man längst unter dem Einfluss des Christentums verschwunden geglaubt hatte. Bismarcks Frömmigkeit war mit evangelischer, ja alttestamentarischer Religiosität verschmolzen, für welche das jüdische Volk die geheiligte Stammesgemeinschaft darstellte und das deutsche insoweit, als es in Kirche und Reich eine echte Nachfolge der jüdischen Tradition vollzog. Daher richtete sich der Kampf Hitlers vor allem gegen die Juden, um ihre Volkheit aus der deutschen auszuschalten. Gleichzeitig aber verband sich seine Bewegung — denn als solche wollte er seine Partei verstanden wissen — mit viel älteren Tendenzen: mit der Sehnsucht des voreiszeitlichen homo faber, des nur auf Triebe und Instinkte gegründeten Urmenschen, die geistige Herrschaft des erwachten und religiösen homo sapiens abzuschütteln. Die Theoretiker des Nationalsozialismus betrachteten Rasse, Volkstum, Blut und Boden als die einzigen Werte, der Mensch habe nur insofern Bestand, als er sich als organischer Teil des Volkes erkenne. So verwandte Hitler bewusst die Methoden der von Le Bon entwickelten Massenpsychologie, spielte geradezu auf der Klaviatur der prälogischen Mentalität, um seine Ziele zu erreichen. Damit wurde das nationale Drama zum Weltproblem: die beiden antagonistischen Philosophien, der empirisch-demokratische amerikanische Individualismus und der marxistisch-leninistische russische Kommunismus verbanden sich gegen den klar erkannten gemeinsamen Feind der menschheitlichen Entwicklung.

Nach dem Sieg der beiden Mächte wurden die noch bestehenden kolonialen Herrschaftsgebiete selbständig. Der Nationalismus kam in sein richtiges Gleis, dem Streben nach kultureller Selbstbestimmung. Mit der Erledigung des deutschen Atavismus trat der frühere Gegensatz wieder in den Vordergrund, nämlich das Problem, auf welcher Basis die als Ziel erkannte freie Menschlichkeit zu verwirklichen wäre, über die marxistische Dialektik des Klassenkampfes, wie sie von Russland vertreten wurde, oder auf Grund freier Assoziation, wie es die amerikanische Weltanschauung in Nachfolge des empirischen Rationalismus verkündete. Doch bevor wir uns diesem Gegensatz in seiner gegenwärtigen Problematik zuwenden, gilt es die Entwicklung der amerikanischen soziologischen Philosophie bis zu unserer Zeit nachzuzeichnen.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
© 1998- Schule des Rades
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