Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

10. Das soziologische Denken

Martin Buber

Martin Bubers Leben vollzog sich in drei Etappen: 1878 in Wien geboren, verbrachte er seine Jugend im damals österreichischen Galizien. Die Studienjahre und die Zeit bis zum Höhepunkt des Nationalsozialismus weilte er in Deutschland; seit 1938 lebte er in Israel, wo er 1965 starb.

Die drei Phasen spiegeln die drei Wesenszüge seines soziologischen Werkes. In Galizien erfuhr er, gleich einer Berufung, die Sonderheit der jüdischen Glaubenswelt, neugeboren aus der damals noch lebenden chassidischen Tradition. In Deutschland gewann er in der Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie die theoretische und systematische Grundlage seiner Lehre; und in seinem Alter in Israel lebte er seiner Aufgabe, die Sonderrolle seines Volkes im Einklang mit der religiösen Erweckung zu verstehen und zu erläutern und in seiner Nachdichtung der chassidischen Schriften wie der Neuübersetzung der heiligen Bücher der jüdischen Überlieferung ein Vorbild für die Zukunft zu schaffen.

Persönliche Berufung, systematische Begründung und dichterische Darstellung waren schon im Anfang seines Wirkens seine wesentlichen Bestrebungen. Doch wenn man von seiner religiösen Berufung spricht, so lässt sich diese nicht als eine Erweckung oder Bekehrung im christlichen Sinn begreifen, sondern sie entstammt dem Erleben, dass die alltägliche Welt plötzlich durchscheinend werden kann in Richtung auf ein intendiertes Höheres, also ihren Sinn als eine tiefere Dimension offenbart. sondern eine Vertiefung des täglichen Lebens zur Subjekthaftigkeit: für jeden gibt es eine Tür, die ihn aus der Sinnlosigkeit des Alltags in die wahre Welt hinüberführt.

Dieser Durchbruch ist für jeden Menschen das Ziel. Hier pflegte er seine Auffassung mit der Erzählung Kafkas zu erläutern, in der ein Wartender sein ganzes Leben vor einer Tür und ihrem Wächter verbringt. Am Ende seines Lebens, als die Tür geschlossen wird, die in das Gesetz führt, erfährt er von dem Türhüter, dass sie von jeher nur für ihn gemeint war. So bedeutete für Buber das Religiöse kein übernatürliches Mysterium,

In diesem Sinn ist er nicht allein, sondern gehört einer Gruppe zu: so der Jude dem Judentum. Eine der schmerzlichsten Erfahrungen des jungen Buber war das öffentliche christliche Gebet in seiner polnischen Schule, bei dem die Juden mit niedergeschlagenen Augen stumm dabeistehen mussten. Diese Erfahrung erweckte in ihm, wie er schrieb, einen Hass gegen jegliche Art der Missionierung, sowohl der christlichen als auch einer möglichen jüdischen. Ihm galt es fortan vor allem, den Wert des jüdischen Glaubens als solchen in der Menschheit zu erfassen und zur Darstellung zu bringen. Der Jude hat seine religiöse Berechtigung in der Welt. Er hat seine Sonderrolle, die ihm niemand abnehmen kann, die aber für die Welt einen wesentlichen Wert bedeutet.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
10. Das soziologische Denken
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