Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
10. Das soziologische Denken
Gut und Böse
Den meisten Menschen schwebe bei dem Gegensatz von Gut und Böse eine Art Wegweiser vor: der eine Arm führt zum Guten, der andere weist zum Bösen. Es ist ihnen ein psychologisches Problem der Entscheidung zufolge der Stimme des Gewissens. Auch Buber neigte noch in den Dreißigerjahren dazu, den Gegensatz psychologisch zu deuten, wenn auch schon als Gegenüberstellung von richtungshaft und richtungslos. Doch unter dem Eindruck des wahrhaft Bösen, wie es im letzten Weltkrieg im deutschen Nationalsozialismus zum Ausdruck kam, begann er sich in den Fünfzigerjahren erneut mit dem Problem zu beschäftigen, aber nun in anderer Sicht: gut und böse sind nicht verschiedene Einstellungen, sondern Seinsweisen. Gut ist ein Leben mit Gott — auf das allgemein menschliche Ziel der Gerechtigkeit hin, in der erst die wahre Gemeinde als Krönung der Gemeinschaft entstehen könne. Böse hingegen sei ein Leben, das auf die Triebhaftigkeit beschränkt sei, diese aber dabei als Substanz missversteht — gerade wie es der deutsche Nationalsozialismus getan hat.
Die ontische Unterscheidung von gut und böse hat wie erinnerlich zwei Ursprünge: den jüdischen und den iranischen. In Israel entsteht das Böse durch den Abfall von Gott, indem ein Engel, Luzifer, sich zum Herrn erdreistet und dadurch stürzt; das Böse ist also eine Abweichung aus dem Guten. Im iranischen Mythos wurden Gut und Böse als verschiedene Reiche, verschiedene Substanzen verstanden. In der europäischen Geschichte haben beide Auffassungen einander durchdrungen. Den stärksten Ausdruck des iranischen Impulses bildete die manichäische Bewegung, die immer wieder die Kirche bedrohte, und später die puritanisch-calvinistische Gesellschaft, die sich als Verkörperung des Guten zum Ausrotten der Gegner als absolut Bösem berufen fühlte. Aus dem iranisch-manichäischen Gegensatz, wie er sich in Europa auswirkte, kann nun keine Überwindung des Bösen kommen, wohl aber aus dem israelischen: Gott schuf den Menschen, wie es in der Überlieferung heißt, mit dem guten und dem bösen Trieb. Aber Gott erklärte den guten Trieb für gut, den bösen Trieb dagegen für sehr gut: er allein als Grundlage aller Macht und Geschlechtlichkeit könne den Menschen zur Vollendung führen, wenn er auf die richtige Art und Weise angejocht wird, während der gute Trieb keine weitere Entwicklung kennt.
Hieran schloss Buber eine unerwartete Interpretation des Sündenfalls:
Als Gott den Menschen aus dem Paradies verwies, nachdem er die Erkenntnis von gut und böse erreicht hatte, um ihn am Essen der Früchte des Baums des ewigen Lebens zu hindern, war dies ein Geschenk Gottes, damit eben der Mensch nicht ewig im gespaltenen Wesen bleibe, sondern über den Umweg der Erde, der Arbeit und des Strebens die Einheit auf höherer Ebene erreiche, und die Macht aus dem bösen Trieb fortan dem guten Trieb diene.
Der gute Trieb gibt die mögliche Richtung, die nicht im Menschen selbst liegt, sondern die er aus der Begegnung mit Gott und dem Mitmenschen erfährt. Der böse Trieb, in sich als schuldig empfunden, verleiht die Kraft und die Leidenschaft, die aber als solche moralisch indifferent sind. Hier nun sehen wir die Rückkehr zur Idee der Schechina — der in die Welt gelegten Gotteskraft, die nur durch Mitarbeit des Menschen erlöst werden kann — auf erkenntniskritischer Ebene in Buber wiedergeboren.
Wie kann der Mensch die Unterscheidung von gut und böse gewinnen, ohne dem Bösen zu verfallen? Die Antwort liegt in der menschlichen Natur: das Böse kann der Mensch nicht mit ganzer Seele, nicht aus voller Bewusstheit tun. Erringt er das volle kritische Gewahrsein, dann allein wird er Herr über seine Macht. Der Weg zur Erlangung dieser Klarheit ist subjektiv der Glaube, aber objektiv gesehen die kritische Philosophie, die damit für Buber am Ende seines Lebens eine ganz andere Bedeutung gewann. So wäre das letzte wesentliche Anliegen zur Schaffung der neuen Gemeinde die wahre Erkenntnis des Menschenbildes, die philosophische Anthropologie. Hier schloss Buber an Kant an, der die Frage was ist der Mensch
noch vor die drei anderen philosophischen setzte was kann ich wissen, was darf ich hoffen und was soll ich tun?
Geklärtes Bewusstsein erlöst den persönlichen Menschen aus dem Bösen; und klare Erkenntnis und Formulierung des Menschen- und Weltbildes könnte die Grundlage einer Gesellschaftsordnung bilden, in der der Konflikt zwischen Einzelnem und Kollektiv überwunden wäre.
Doch die Formulierung dieses Menschenbildes geht über das soziologische Denken hinaus. Zuerst gilt es, den Glauben auf allen Gebieten zum Wissen zu erheben, also den griechischen Aufstieg von der doxa zur episteme, vom Ahnen zur Gewissheit zu vollenden. Dies setzt die Bewältigung eines anderen Denkstils voraus: des wissenschaftlichen Denkens, das in unerwarteter Weise viele der Hoffnungen der beiden gegensätzlichen soziologischen Bewegungen erfüllt hat.