Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
11. Das wissenschaftliche Denken
Weltbild klassischer Physik
Es gibt viele Richtungen der Philosophie, die für sich in Anspruch nehmen, das eigentliche wissenschaftliche Denken zu verkörpern. Doch meistens sind sie mit einem soziologischen Ideal verknüpft; so der dialektische Materialismus mit der Eschatologie des Marxismus oder die empirische Naturphilosophie mit der pragmatischen Ethik. Das wissenschaftliche Denken, das wir in der Folge als eigenen Stil betrachten wollen, hat dagegen seine Wurzeln im Werk Immanuel Kants: es bedeutete den Versuch, die Wissenschaft selbst zum System der Vernunft zu erheben, wie es Kant mit seinen Kritiken philosophisch beabsichtigt hatte, deren Ergebnisse aber durch seine idealistischen Nachfolger überholt erschienen.
Der Ansatz dieser Art des wissenschaftlichen Denkens lässt sich auf den Chemiker Justus von Liebig, 1803-1873, zurückführen. Ursprünglich ein Schüler Schellings, wandte er sich bald enttäuscht ab von dieser Denkungsart, die so reich an Spekulation und so arm an Tatsachen war
und widmete sich dem Studium der Naturelemente und ihrer Gesetze; doch nicht wie Robert Boyle, um die experimentelle Wissenschaft zu erweitern, sondern um in den Daten und Gesetzen der Natur ein System zu finden, das in der Weise des Xenophanes der Wirklichkeit zugrundeläge.
Als erstes boten sich für dieses neue Weltbild die newtonschen Gesetze der Schwerkraft und die galileischen der klassischen Mechanik an. Den Grundbegriff bildete das Paar Kraft und Stoff, das in einem berühmten Buch des Materialisten Büchner um die Mitte des Jahrhunderts popularisiert wurde und an die Stelle des aristotelisch-scholastischen Gegensatzes von Form und Materie trat. Nachdem Robert Mayer das Gesetz der Erhaltung der Energie erkannt hatte, das nun neben das alte philosophische von der Erhaltung der Substanz trat, schien die Parallelität bis ins letzte durchführbar. Die Sinnesphysiologen Weber, Fechner, Müller und Helmholtz hatten gleichzeitig die Beziehung zwischen qualitativen Sinneswahrnehmungen und quantitativen Meßwerten bis ins letzte ausgearbeitet, sodass sich folgendes polare Schema der Wirklichkeit anbot:
Kraft
Quantität
Stetigkeit
Welle ·
·
·
· Stoff
Qualität
Unstetigkeit
Korpuskel
Hierbei wurden die Kraft und die Quantität oder Meßbarkeit als die Grundlage betrachtet und die qualitativen Sinneswahrnehmungen, vor allem Farben und Töne, als Erscheinungsform der Quantitäten behandelt, wobei die lockesche Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten trotz des philosophischen Beweises ihrer Absurdität beibehalten wurde. Die Daten des Tastsinns erhielten eine größere Objektivität zuerkannt als die Daten von Gehörssinn und Gesichtssinn, weil sie etwas scheinbar Beharrendes betreffen. Nach Entdeckung des periodischen diskontinuierlichen Systems der chemischen Elemente durch Mendelejew und Lothar Meyer und des kontinuierlichen Spektrums der elektromagnetischen Wellen durch Maxwell, Fresnel und Hertz schien ausgemacht, dass die kontinuierliche Energie tatsächlich die Wurzel der diskontinuierlichen Stoffe darstellt; die qualitativen Unterschiede zwischen den Elementen ließen sich eindeutig auf ihre quantitative Struktur zurückführen. In der Wärmelehre war ferner gelungen, die drei Zustände der Stofflichkeit aus der Bewegungsgeschwindigkeit der Elementarteile zu erklären. Weiter schien sich die Zeit aus dem Entropiegesetz ableiten zu lassen, demzufolge alle Energie danach strebt, sich in Wärme zu verwandeln und dieser Vorgang nicht umkehrbar ist. So hatte man ein einheitliches Weltbild gewonnen, dessen Wurzeln unzerstörbar schienen: die Welt werde durch eherne Gesetze regiert, die kausal alles Geschehen lenken. Aus der Kraft entstehe der Stoff. Das Leben unterscheide sich von der anorganischen Materie dadurch, dass in ihm das Kraftprinzip das Stoffprinzip überwiege.
Um die Jahrhundertwende hatte sich damit eine Weltanschauung gefestigt, die dem Ideal des Bürgertums mit seinen statischen Werten entsprach und in der die Religion entweder verbannt oder in den ethischen Hintergrund gerückt war. In den Neunzigerjahren (1899) erschien Haeckels Buch Die Welträtsel
, das Antworten auf sämtliche Probleme zu geben versprach und binnen kurzem eine riesige Auflage erlebte. Um 1900 gründete der Naturphilosoph Wilhelm Ostwald seinen Monistenbund, dessen Aufgabe es sein sollte, das energetische Weltbild endgültig durchzusetzen. Alle notwendigen Begriffe dafür schienen ergründet. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Philosophie war daher eine kompilatorische und lexikographische, wie sie etwa im Werke Wundts zum Ausdruck kam.