Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
12. Das ganzheitliche Denken
Indische Esoterik
Buckes kosmisches Bewusstsein ließ sich noch in den normalen Kategorien des wissenschaftlichen Denkens begreifen; der wesentliche Impuls der esoterischen Bewegungen kam jedoch aus Indien. 1828 hatte Raja Ram Mohan Roy in Kalkutta den Brahmo Samaj begründet, um den Hinduismus von irrationalem Beiwerk zu befreien oder, anders ausgedrückt, die Begegnung mit dem Christentum fruchtbar werden zu lassen, während die hinduistische Orthodoxie seit Jahrhunderten in den scholastischen Systemen erstarrt war. Doch abseits von der hinduistischen und auch der islamischen Orthodoxie hatte es eine ungebrochene Folge einsamer Heiliger gegeben, die jenseits der Bekenntnisse die persönliche Gotteserfahrung weiterentwickelten. In den Neunzigerjahren versuchte Mme. Blavatsky, und im Anschluss an sie Annie Besant, die Grundgedanken des indischen mythischen Denkens in Zusammenhang mit den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft und manchen Lehren dieser einsamen Meister in der Theosophie wiederzuerwecken, wobei diese Erweckung auch nationale Züge zeitigte; Annie Besant war eine der ersten Präsidentinnen der indischen Kongreßpartei, die seit der Selbständigkeit die Regierungsgewalt übernommen hat.
Die Theosophie bemühte sich um eine synkretistische Verschmelzung der religiösen Traditionen durch Schaffung einer Theologie und eines Kultus, der christliche, islamische, persische, taoistische und konfuzianische Elemente umfasste. Die wissenschaftliche Ausrichtung der Theosophie wurde in der Anthroposophie Rudolf Steiners weiterentwickelt, der sich bald von der indischen Theosophie trennte und sein Hauptaugenmerk auf die Erziehung richtete, vor allem die Entfaltung bisher unberücksichtigter Anlagen der Psyche, der in seinem Lehrgebäude aber persönlichen Visionen und Erfahrungen die gleiche Bedeutung zuerkannte wie der Tradition, während die Theosophen ihre Erfahrungen im Lichte des traditionellen Hinduismus zu verstehen suchten. Die innere Erneuerung des Hinduismus selbst kam aber durch drei Weise, die der Tradition der einsamen Lehrer zugehörten und die drei mythischen Richtungen wiedererweckten: für die Tantrik Ramakrishna und sein Schüler Vivekananda; für den Vedanta der Saivas Ramana Maharshi, und für die Evolutionslehre der Vaishnavas des Bhaktiweges Aurobindo Ghosh.
Während die Theosophen die Religionen eklektisch zu vereinigen suchten durch Aufdecken des Gemeinsamen, vor allem des ethisch-moralischen und mystischen Gedankengutes, erlebte Ramakrishna die innere Wahrheit aller Bekenntnisse durch persönliche Erfahrung, aber der wesentliche Gottesbegriff blieb ihm die göttliche Mutter. Er ging nicht den orgiastischen Weg des Tantra, sondern den asketischen Liebesweg. Durch Versenkung in die Urmutter Kali und ihre Kraft, die der Ursprung der Schöpfung sei, erlange der Mensch das Heil auf kürzerem Weg als durch Reue und Übung. Im Vertrauen auf die Kraft der göttlichen Mutter, die Ramakrishna ein ständiges gegenwärtiges Erleben war, bis er zuletzt auch sie transzendierte, überwand er den Gegensatz von Triebhaftigkeit und geistiger Erfahrung, da beide aus der gleichen Wurzel stammten. Ergriffen von der Schau Ramakrishna verwandelte sein Schüler Swami Vivekananda — der im Parlament der Religionen in Chicago um die Jahrhundertwende die tatsächliche Einheit der Religionen lange vor der ökumenischen Bewegung verkündete — dessen Impuls in eine missionarische Aufgabe, die sich einerseits der Versöhnung von Kultur und Religion im traditionellen tantrischen Sinn, andrerseits der aktiven Nächstenliebe, der praktischen Sorge für den Mitmenschen im christlichen Sinn widmete, welche im Hinduismus mit seiner engen Kastenverantwortung nur eine geringe Rolle gespielt hatte.
Shri Ramana Maharshi erlebte die Wahrheit des Vedantaweges, des Advaita. Mit siebzehn Jahren wurde ihm das erste Mal spontan ganz im Sinne des Kanadiers Bucke die kosmische Wirklichkeit, die Überschreitung der Todesschwelle in einem kataleptischen Zustand, wie er als letztes Ziel mancher Yogaübungen auftaucht, bewusst. In diesem Zustand erfuhr er seine Berufung, das einmal Erlebte als bewusste Ebene des Gewahrseins zu festigen, und er zog sich schweigend durch viele Jahre auf den Berg Tiruvannamalai bei Madras zurück, wo sich bald die ersten Schüler zu ihm gesellten. Die Einheit des inneren Selbstes und der göttlichen Wirklichkeit, von Atman und Brahman war ihm eine lebendige Erfahrung. Seine Lehre bestand in der Vertiefung der einzigen Frage Wer bin ich? Wenn jemand zu ihm mit Sorgen kam, so pflegte er zu fragen: Wer ist es, der fragt? Wer ist es, der Sorgen hat?
Unter dem Eindruck seiner überwältigenden Klarheit, ja Verklärung gelang es seinen Schülern und Besuchern, selbst in seiner Gegenwart zu diesem Ursein vorzustoßen und einen Vorgeschmack des wirklichen Lebens zu haben, das ihnen dann allein erst als Frucht langer Bemühungen wieder zuteil werden konnte.
Der Erneuerer des dritten Weges, Shri Aurobindo in Pondichery, begann seine Laufbahn als Revolutionär gegen die englische Oberherrschaft. Nach dem Erleben einer geistigen Berufung wandte er sich dem Entwicklungsgedanken zu. Für ihn handelte es sich fortan darum, die heute notwendig werdende geistige Stufe, die er als das Überselbst bezeichnete, als Schritt der Entwicklung zu verstehen, wie ja auch die Vaishnavas heute als neunte Inkarnation Vishnus Jagganath, den Gott der Technik erwarten, mit welchem natürliche Evolution und geistiger Läuterungsweg verschmelzen sollen. Gleich dem indischen Dichter Rabindranath Tagore, der sich der kulturellen Erneuerung zuwandte und durch den die Künste wieder auf traditioneller Grundlage zu ihrem Recht kamen, war er sich des Wertes der europäischen Tradition bewusst, versuchte aber die Vereinigung der Evolutionsrichtungen nicht synkretistisch, sondern in einem echten kulturellen Gespräch zu erreichen.
Auch die Wirkung der Einsiedler wie Sai Baba in Bombay, der im Sinne Kabirs Hinduismus und Islam in sich vereinte, begann in der Öffentlichkeit Anklang zu finden. Der letzte Repräsentant dieser Richtung, Meher Baba, der als Perser der zaroastrischen Tradition entstammt, formuliert in seiner Botschaft die Einheit Gottes und aller Bekenntnisse in stärkster Weise, indem er sich und damit alle Menschen als göttliche Inkarnationen und Avatars bestimmt. Er erfasst seine Aufgabe in der Ergebung in Gottes Willen, aber jenseits des islamischen heiligen Krieges oder der zaroastrischen Teilung in Himmel und Finsternis: es gelte den Willen ohne auch die kleinste Reserve der Gottheit zu überantworten; denn nur in der Überwindung der persönlichen Willkür lasse sich die wahre Erlösung erreichen.
Meher Baba schweigt seit vierzig Jahren: die wirkliche Einheit mit Gott liegt jenseits des Redens, welches der Welt angehört. Während der Dreißigerjahre fuhr er zu allen geheiligten Stätten der Welt, um dort die göttliche Gegenwart zu meditieren; und während des zweiten Weltkrieges widmete er sich denjenigen gottergriffenen Menschen, die vom gewöhnlichen Gesichtspunkt aus als verrückt bezeichnet werden, doch nicht im normalen Sinne krank sind, sondern in einer absurden Weise die Gotteskindschaft zu verwirklichen suchen, ähnlich wie die seltsamen chinesischen buddhistischen Heiligen.
Mit Beginn des neuen kosmischen Zeitabschnittes 1962 verkündete er die Einheit aller Wege: sein Anspruch, dass er die Gottheit verkörpere, ja sei, ist als Anruf zu verstehen, in besonders provozierende Form gekleidet, dass unterhalb der Vereinigung mit der Gottheit und der Überwindung des sterblichen Ichs ein menschengemäßes Leben auf der Erde nicht mehr zu verwirklichen ist.