Schule des Rades

Arnold Keyserling

Geschichte der Denkstile

12. Das ganzheitliche Denken

Georges I. Gurdjieff

Von der islamischen Erneuerung drang nur wenig über den Kreis der Bruderschaften hinaus, die sich selbst wie erinnerlich jenseits aller Bekenntnisse betrachteten. Der kaukasische Philosoph G. I. Gurdjieff, 1877-1949, vereinte die Lehre der Bruderschaften, die wir in seinem Sinn beim theokratischen Denken besprachen, mit der christlich-orthodoxen esoterischen Überlieferung im Sinne des Dionysius Areopagita. In seiner Jugend schloss er sich einer Gruppe von Forschern an, den Wahrheitssuchern, die es sich zur Aufgabe setzten, das verstreute Wissen über den menschlichen Entwicklungsweg wieder zu sammeln. Im Laufe seiner Reisen kam er in Kontakt mit der Bruderschaft Sarmoun; und während die anderen Mitglieder seiner Gruppe dort blieben, da sie das Ziel gefunden hatten, sah er seine Aufgabe darin, dieses Wissen für die kommende Zeit in eine neue Form zu gießen. Er bildete 1915 in Moskau eine Gruppe, die sich später nach der Revolution in Paris etablierte und vor allem durch seinen Schüler Ouspensky im angelsächsischen Bereich bekannt wurde.

Die Schwierigkeit der esoterischen Bewegung war gewesen, dass der Läuterungsweg die Abgeschiedenheit von der Zivilisation verlangte, welche heute kaum jemandem mehr auf der Welt erreichbar ist. Gurdjieff formulierte seine Lehre als neuen Vierten Weg: es gelte die Wirklichkeit selbst, das alltägliche Leben zum geistigen Arbeitsfeld zu machen, die Arbeit an den Dingen in Arbeit an sich selbst zu verwandeln. Während die meisten Seelenärzte nach Harmonisierung des Gemüts strebten, versuchte er den Gegensatz im Menschen zu akzentuieren: nur in bewusster Trennung von absichtlichem Leiden — der dauernden Übung der Selbstüberwindung im Aufsuchen von Schwierigkeiten im Gegensatz zur heutigen Kultur des Sichleichtmachens und bewusster Arbeit im Studium der Weltgesetze, die allerdings der zeitgenössischen Wissenschaft zum großen Teil verborgen sind, da zu ihrer Erkenntnis eine andere Bewusstseinslage notwendig ist, kann der Mensch eine innere Spannung erzeugen, in der seine Seele der Klärung und Befreiung fähig wird. Gurdjieff verkündete, dass alles Heil in unserer Zeit nur durch Arbeit an sich selbst erreicht werden könne. Seinen Weg hielt er geheim, obwohl immer wieder Nachrichten über seine Tätigkeit an die Öffentlichkeit drangen. Die Geheimhaltung war ein wesentlicher Teil der Gruppenarbeit, weil die persönliche Anstrengung, ja die verzweifelte Suche nach der Wahrheit nach vielen Enttäuschungen gerade die Möglichkeit gibt, aus der Welt des Scheines in die wahre Wirklichkeit aufzusteigen.

Zuerst versuchte er das Wissen der menschlichen Läuterung in systematischer Weise seinen Schülern zu übermitteln. Doch als er sah, dass dieses Wissen zu bloßer Kenntnis im wissenschaftlichen Sinn entartete, schrieb er es in verschlüsselter Weise in Form eines kosmischen Märchens All und Alles, oder Beelzebubs Erzählung an seinen Enkel nieder, dessen ausdrücklicher Zweck es sein sollte, die falsche Sicherheit des Welt- und Selbstverständnisses zu zerstören: Beelzebub sei wegen Auflehnung zur Sühne vom Weltzentrum auf den fernen Planeten Erde verbannt worden und erzählt jetzt seinem Enkel das seltsame Gehabe der Erdbewohner. Der zweite Band dieses Werkes bringt in Form einer Lebenserinnerung an bedeutende Persönlichkeiten die Komponenten der wirklichen Erfahrung; und der dritte Teil, der nur für den inneren Schülerkreis bestimmt war, unter dem Titel Die Welt ist nur wirklich wenn ich bin die tatsächlichen Übungen.

Gurdjieff wählte als Mittel seines Lehrens die Bewegung, den Tanz. Die falsche Einstellung des Menschen, der zum homo sapiens berufen ist, sich aber als Pseudo-Instinktwesen gebärdet, welches gleich einer — allerdings nicht mechanischen, sondern kybernetischen — Maschine von außen gesteuert wird, äußert sich in seiner Konditionierung als Bündel von pawlowschen Reflexen. Bekanntlich ist es das Wesen des Gedächtnisses, dass ein Reflexbogen dann in Tätigkeit tritt, wenn ein Teil seines Ablaufs stimuliert wird; dass also ein Hund, der sein Essen immer in Verbindung mit einem Klingelzeichen erhielt, auch dann Speichel absondert, wenn das Klingelzeichen allein ertönt. Im gleichen Sinne ist jede menschliche Körperhaltung mit einer bestimmten seelischen Stimmung und geistigen Assoziations­kette verknüpft. Da nun der Körper leichter als Seele und Geist der Einwirkung zugänglich wird, ist das beste Mittel, um die Sklaverei der Reflexe zu durchbrechen, diesen in ungewohnte Stellungen zu bringen — also nicht harmonische Tänze nach natürlichen Rhythmen zu vollziehen, sondern ungewohnte Bewegungen auszuführen und damit einerseits sich selbst aus neuer Sicht zu erleben, andrerseits aber auch die in Reflexbahnen fixierten Energien zu befreien, um ein größeres Potential an Aufmerksamkeit zu gewinnen, welches die Voraussetzung einer wirklichen Arbeit an sich selbst bildet.

Ein Mensch allein wird nicht im Stande sein, sich in diese Lage zu versetzen, weil er sie nicht kennt; hierzu ist die Arbeit einer Gruppe nötig; vor allem, um die Puffer und Schranken, wie Gurdjieff die Verdrängungen bezeichnet, abzubauen, die nicht nur bei der zitierten Sally des Morton Prince, sondern bei jedem Menschen unzählige Teilpersönlichkeiten voneinander trennen. Lichtenberg verkündete, und Ernst Mach hat es aufgenommen, dass das Ich nicht eine Wirklichkeit, sondern ein Postulat sei; Gurdjieff ergänzte ihre These dahingehend, dass die Einheit des Ich nicht aus dem rousseauschen guten Willen, sondern nur über technisch-methodische Kenntnis im Sinne des Yoga zu erreichen ist. Das Erreichen eines wahren Ich als Wesenskern ist nicht Erbrecht oder Naturnotwendigkeit, sondern das höchste Ziel der menschlichen Existenz. Gurdjieff bezeichnete dieses Ziel als kosmisches Individuum, das kosmologisch nicht mehr auf die Erde beschränkt ist, sondern im Rahmen des Sonnensystems Unsterblichkeit erreicht. Er veranschaulichte dies im kosmologischen Schema des Schöpfungsstrahls:

I n v o l u t i o n 0
3
6
12
24
48
96

das Absolute
die manifestierte Gottheit  
Milchstraßen
Sonne
Planeten
Erde
Mond

Denken
Fühlen
Empfinden
Wollen

E v o l u t i o n

Der Mensch hat — ganz wie im Yoga — an allen sieben Schöpfungsbereichen teil. Doch ist er, falls er sich nicht bewusst entfaltet, unter dem Einfluss von so vielen Gesetzen und Impulsen — 96 im Empfinden, 48 im Fühlen, 24 im Denken — dass er diese nicht integrieren kann. Nur auf der Ebene der Sonne ist eine Integration des Willens im zwölffältigen Rahmen der Sonnenbahn gegeben. Daher gilt es, alle menschlichen Tätigkeiten einerseits im Rahmen der zwölf Gebiete zu integrieren und andrerseits im Enneagramm — das wir im theokratischen Denken besprachen — die Sprache, die Welt der Begriffe so weit zu reinigen, dass sie die Integration möglich machen. Sinnvolles Leben setzt voraus, dass das Bewusstsein eine Ebene erreicht, in welcher die Lebensgleichung überhaupt lösbar wird. Diese Erweckung des Bewusstseins im Einklang mit dem Gewissen sah Gurdjieff — in seiner Vision des Propheten Ashiata Shiemash — als Aufgabe der Zukunft. Die Impulse Liebe, Glaube und Hoffnung seien unwirksam geworden. Doch jeder Mensch könne realisieren, dass seine Bewusstseinslage nicht der Wirklichkeit entspricht, dass er in seinem durchschnittlichen Zustand in gleichem Maße von äußeren Einflüssen abhängig ist wie eine (kybernetische) Maschine; und dass daher die Aufgabe, diesen Zustand zu verwandeln, vor alle anderen Anliegen zu treten habe.

Indische, islamische und auch gurdjieffsche Esoterik blieben im Rahmen der Übung stehen. Sie waren esoterisch in dem Sinne, dass sie die Erlösung nur für kleine Gruppen von Menschen für möglich hielten, welche die Anstrengung bewusst unternahmen, der Sklaverei der falschen Bewusstseinslage zu entrinnen. Aber nicht nur der Mensch, auch die Gestaltung seiner Welt zeigt ein falsches Bild seiner Wirklichkeit. So gilt es auch diese zu verwandeln. Dies war einerseits das Ziel der künstlerischen Esoterik, andrerseits der Kulturphilosophie.

Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile · 1968
12. Das ganzheitliche Denken
© 1998- Schule des Rades
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