Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
12. Das ganzheitliche Denken
Josef Matthias Hauer
Der nächste Denker, der Musiker Josef Matthias Hauer, 1883-1959, kam aus der Notwendigkeit eines neuen Komponierens dazu, die Musik wieder in ihre ursprüngliche Rolle als Erkenntniswerkzeug, in der sie Pythagoras etabliert und die Renaissance gefestigt hatte — aus der sie aber einerseits durch den Einfluss der Wiener Klassik und andrerseits des wissenschaftlichen Denkens verdrängt worden war — einzusetzen.
Die Theorie des Boëthius hatte die drei Bereiche der musica mundana als Spiegel des Makrokosmos, der musica humana als Spiegel der Triebsphäre und des Mikrokosmos, und der musica instrumentalis als Spiegel der menschlichen Kultur unterschieden. Doch blieben sowohl Boëthius als auch die Philosophen der Renaissance die kritische Begründung ihrer These schuldig, weshalb die Musiktheorie sich seit dem 18. Jahrhundert von dieser Dreiteilung abwandte und statt ihrer einerseits die Zweiteilung von ernster und populärer Musik annahm, andrerseits alle Melodien aus den Dur-Moll-Tonleitern ableitete, womit jede Beziehung zwischen Philosophie und Musik zerstört wurde. Zwar gelang es von Albert von Thimus und seinem Nachfolger Hans Kayser, die pythagoräische Grundlage der Musik größtenteils aus den neuplatonischen Quellen zu rekonstruieren und damit die Harmonik als eigenständige Wissenschaft zu etablieren. Doch die entscheidende Wendung brachte Josef Matthias Hauer mit seinem Zwölftonspiel, welches die boethische Theorie kritisch fundiert hat.
Gleichzeitig mit Einsteins Relativitätstheorie erkannte Hauer, dass die Bevorzugung des Raumes vor der Zeit, der Ruhe vor der Bewegung im abendländischen Denken auch die Musiktheorie verfälscht hatte: Ausgangspunkt allen Musizierens ist niemals eine Tonleiter, sondern immer eine Folge von Tönen, eine Melodie. Unter Annahme von zwölf Tönen ergibt sich ohne Rücksicht auf die Tonhöhe eine ursprüngliche Fülle von 479.001.600 Zwölftonreihen, die als das Rohmaterial der Musik zu gelten haben und ihre Ordnung in 44 Tropen oder Wendungsgruppen der Intervalle haben, die den Strichdiagrammen des I Ging entsprechen.
Die Musik entfaltet sich zwischen zwei Polen: einerseits der Obertonreihe, die arithmetisch dem Gesetz der ganzen Zahlen folgt, und andrerseits den Intervallen, welche sich nur über das geometrische Mittel aufeinander abstimmen lassen. Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Musiktheoretikern betrachtete Hauer die temperierte Skala, die auf der Teilung der Oktave in zwölf gleiche Halbtöne beruht, nicht als Kompromiss, sondern als das Gesetz der musica mundana, und die Obertonreihe als das Gesetz der musica humana. Als einfachste Verbindung der beiden prägte er das auf zwölf Vierklängen gegründete Zwölftonspiel als Grundlage einer philosophischen Musik im Sinne der musica instrumentalis. Diese habe weniger eine künstlerische als vielmehr eine kathartische Bedeutung: durch Vernehmen eines Zwölftonspiels befreit sich der Mensch aus den tonalen Assoziationen, die dem stärksten Impuls folgen, und erreicht in sich die Ausgeglichenheit, die innere Ruhe, welche bei allen esoterischen Überlieferungen die Voraussetzung eines sinnvollen Lebens gebildet hat.
Esoterisch war Hauers Zwölftonspiel darin — und damit vergleichbar dem Sprachspiel Wittgensteins — dass es als Ziel die Erreichung einer Bewusstseinslage anstrebte, welche dem Menschen Klarheit und Ruhe vermittelt, hier war sein Streben eines Sinnes mit dem der anderen Esoteriker. Doch betrachtete er Musik nicht nur als Kunst, sondern auch als Grundlage allen Wissens. Musik ist nicht nur die sinnliche Wahrnehmung von Tönen und Intervallen, sondern sie spiegelt auch die Gesetze der beiden anderen Welten, des Mikrokosmos und des Makrokosmos. Mikrokosmisch hat der Kohlenstoff als Grundelement des organischen Lebens mit seinen sechs Protonen, sechs Neutronen und vier Valenzen die gleiche Strukturierung wie das hauersche Zwölftonspiel. Die Gewichtsabweichung der Protonen und Neutronen von der Ganzzahligkeit im Packungseffekt entspricht der Abweichung der arithmetischen von der geometrischen Stimmung, wie wir sie schon bei Pythagoras darstellten. Auch die anorganische Materie lässt sich in musikalischer Gesetzlichkeit begreifen.
Hieraus ergaben sich bei Hauer viele Ansätze für weitere wissenschaftliche und philosophische Forschungen, welche zum Teil, zusammen mit der Harmonik Hans Kaysers, in meinem Buch Klaviatur des Denkens
ausgeführt worden sind.
Ein Beispiel des Zwölftonspiels und eine Darstellung der Gliederung der Tropen findet sich in meinem Rosenkreuz
, Wien 1956.
Die Entsprechung der makrokosmischen Planetenumläufe zu musikalischen Harmonien hatte bereits Kepler nachgewiesen. Nehmen wir nun noch die gurdjieffsche These hinzu, dass der Mensch nur im Rahmen des Zwölfergesetzes zur Integration seines Wesens und Wissens kommen kann, so zeigt sich die Berechtigung des Hauerschen Postulats, das auch Kayser vertreten hat, demzufolge nicht nur Mathematik und Logik, sondern beide vereint mit dem Tonsystem den Rahmen des natürlichen Systems der Philosophie zu bilden hätten.
Hauer eröffnete Ausblicke in dieser Richtung; die Brücke zwischen Wirklichkeit und Musik zu finden war nicht sein Anliegen. Er beschränkte sich darauf, sein Zwölftonspiel als musica instrumentalis so zu vervollkommnen, dass es kommenden Generationen als grundsätzliche Grammatik der Tonwelt dienen könnte. Die unmittelbare Durchdringung der menschlichen Wirklichkeit war dagegen das Anliegen der vier Kulturphilosophen Leo Frobenius, Oswald Spengler, Graf Hermann Keyserling und Teilhard de Chardin, mit denen wir zum Abschluss des ganzheitlichen Denkens kommen.