Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
Nachwort
Mensch im All
Die Geschichte der Denkstile
entstand zwischen 1964 und 1968, seither habe ich sie dreißig Jahre in verschiedenen Sprachen unterrichtet und in der zweiten Auflage einige Irrtümer richtiggestellt. Das Buch wurde von vielen missverstanden, die glaubten, es wäre eine der üblichen Geistesgeschichten; ferner wären in anderen Darstellungen viele Tatbestände besser erhellt worden. Das ist sicher richtig, aber das Ziel meiner Geschichte war nie akademisch. Ich gehöre der Tradition der Schule der Weisheit zu, deren Ziel das Nichtwissen im sokratischen Sinn ist, oder das Erreichen der inneren Leere als Vorausbedingung des Erfahrens der Fülle wie bei Buddha. Ich habe nie eine These vertreten, sondern versuchte die Weltgeschichte aus dem Denken von zwei Gesichtspunkten aus anzugehen: aus der natürlichen Evolution im Anschluss an Geologie und Biologie, und aus der Vertiefung in die religiösen Offenbarungen aller mir zugänglichen Traditionen.
Ich habe mich nicht um Irrtümer gekümmert, sondern um den Fortschritt im Sinn. Dabei ist mein Ausgangspunkt auch tiefenpsychologisch. Wie es für jeden notwendig ist, irgendeinmal eine Rekapitulation seines ganzen Lebens vorzunehmen — also das vorwegzunehmen, was nach Auffassung von Bergson im Augenblick des Todes geschieht — und alle Ereignisse von positiven Gesichtspunkten aus zu betrachten, um die in Traumas blockierte Energie durch Vergegenständlichung im Wort zu befreien gilt es das gleiche für die kollektive Geschichte der Menschheit vorzunehmen. Das persönliche und das kollektive Nervensystem, die Menschheit als Noosphäre der Erde, sind hedonistisch. Daher ist Verweilen in negativen Erinnerungen unsinnig und sogar tödlich, denn es zerstört die Vitalität.
Ich folge einerseits der indischen Auffassung der Akasha-Chronik, die alles vom Menschen artikulierte Wissen umfasst, sodass man es nur anzupeilen braucht, um es zu erfahren, andererseits der Auffassung von Rupert Sheldrake der morphic causation: wenn ein Gedanke einmal sprachlich artikuliert ist oder eine biologische Mutation sich durchgesetzt hat — das Gleichnis vom hundertsten Affen — dann wird sie fortan zum Zeitgeist, der die darwinistische Evolution ergänzt. Die Evolution weiß nicht nur den Ursprung der Schöpfung im Urknall, sondern lässt auch die Zielvorstellung der Neuen Erde erahnen. Die wahre Eschatologie ist eine positive Auffassung, die Offenbarung von Johannes und viele Untergangsprophezeiungen betreffen nur die Vertreter eines Zeitalters.
Für mich wie für den jungen Marx ist Gott die Menschheit, der Mensch im All. Er ist als Stimme des Ostens jedem zugänglich, der sich darum bemüht. Erst in der Wassermannzeit mit der technologischen Weltzivilisation wird er allgemein zugänglich. Damit wird die Weisheitstradition zum Pol der Öffentlichkeit, in Ergänzung zur intimen Selbstbestimmung. Es gibt heute keine Gruppen mehr, die als ausschließliche Elite die anderen zu führen hätten. Die Menschwerdung wird jedem zugänglich, der die geistige Auferstehung nicht über Askese und Moral, sondern durch eine bestimmte Meisterschaft angeht, wenn das, was für ihn sinnvoll ist, anderen nützlich wird: die neue Form der Nächstenliebe.