Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Beginn des logischen Denkens
Im mythischen Denken bildete die Welt eine Ganzheit; Volksreligion und Mythos sind auf der ganzen Erde aus den gleichen Komponenten gefügt. Zwar gibt es Unterschiede der Interpretation:
- bei den Chinesen lag der Akzent auf der Erfassung der schöpferischen Keime und der Wandlungen und auf der Rolle des Menschen in der Gemeinschaft;
- bei den Indern auf der Erkundung der persönlichen Wege zur Befreiung und Transzendenz,
- bei den Iranern auf der Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse,
- bei Israel auf einem Leben im Einklang mit Gottes Wollen,
- und bei den Griechen auf der Erkenntnis der menschlich-natürlichen Vollendung in all ihren Aspekten.
Mit dem Beginn des logischen Denkens löst sich das griechische aus den Mythen und damit aus der allgemeinen Übereinstimmung heraus. Dieser Schritt bedeutet den Beginn der spezifisch-europäischen Geistesgeschichte, die durch 2.500 Jahre eine ganz eigene Entwicklung genommen hat.
Wir bezeichnen den Ursprung dieser Geistigkeit als das logische Denken. Es ist nicht das einzige philosophische Verhalten zur Welt. Allgemein heißt Philosophie das Streben nach Erkenntnis und Erklärung der Totalität der Wirklichkeit; und dieser wird das mythische Denken in höherem Maße gerecht als das logische. Dennoch bedeutet die Entwicklung der Logik einen echten Schritt der Bewusstseinsentfaltung. Sie kam aus dem Wunsch, zu einem unbezweifelbaren Wissen zu kommen, das dem Menschen im Wachbewusstsein eine sichere Orientierung in der Welt ermöglichen würde.
Früher war man gewöhnt, die Geburt des logischen Denkens mit dem Beginn der Wissenschaft gleichzusetzen. Doch in den letzten hundert Jahren hat sich der Begriff der Wissenschaft wesentlich gewandelt: wir bezeichnen heute als wissenschaftlich diejenigen Theorien, die aus der Erfahrung über ein wiederholbares Experiment verifiziert werden können, ohne Rücksicht darauf, wie diese Theorien mit anderen zusammenhängen oder in Einklang stehen. So gibt es ein chemisches Studium der Atome und ihres Verhaltens, das sich wesentlich von der physikalischen Fragestellung unterscheidet. Biologen wiederum gehen bei der Untersuchung lebendiger Organismen von ganz anderen Voraussetzungen aus als Physiker, ja sie stehen oft im Gegensatz zu deren Thesen. Die finale Erklärung ist zum Verständnis eines lebendigen Organismus etwa als Bauplan seiner Entfaltung ebenso wichtig wie die kausale, während die Physik jegliche Teleologie heute als Aberglauben bekämpft. Die reinen Logiker erkennen dagegen andere Kriterien an:
- das Kriterium des Sinnes mit der Unterscheidung von sinnvoll und sinnlos, richtig und falsch, wahr und unwahr,
- und ferner die Notwendigkeit der Ableitung aus einem Prinzip;
- hierzu tritt die Forderung nach Widerspruchsfreiheit und nach systematischem Zusammenhang aller Voraussetzungen.
Logik ist heute eine Wissenschaft und hat sich aus der Philosophie gelöst. Doch auch heute noch fragt man jeden Denker nach seinen Hypothesen, um seine Philosophie begreifen und orten zu können. Diese Denkweise hat einen Anfang gehabt, der sich zeitlich genau fixieren lässt: er liegt im Griechenland des siebten vorchristlichen Jahrhunderts bei den Vorsokratikern, den Vertretern der archaischen Philosophie. Das Wort archaisch kennzeichnet das Grundanliegen all dieser Philosophen: die Suche nach einem Uranfang oder Prinzip (Arché), aus dem sich die Gesamtwirklichkeit lückenlos begreiflich ableiten ließe.
Der logische Denkstil zielt nicht auf ein Erleben der Gesamtwirklichkeit, wie das mythische Denken, sondern auf deren Vergegenwärtigung in der Abstraktion, in einem Gebäude von Begriffen, deren Zusammenhang den Weltzusammenhang spiegeln soll. Logisches Denken gab es nicht nur in Griechenland; auch andere Kulturen hatten ein solches hervorgebracht. Doch waren sich jene Kulturen des transzendenten Urgrundes und der Notwendigkeit der Vereinigung des Menschen mit diesem immer so bewusst, dass es zu keiner Trennung zwischen dem logischen und dem mythischen oder religiösen Denken kam, weshalb aber auch die begriffliche Exaktheit niemals so wichtig genommen wurde; jeder wusste ohnehin, welche Wirklichkeit der chinesische oder indische Weise meinte. Die griechische logische Philosophie dagegen entwickelte sich bewusst im Gegensatz zur mythischen Denkungsart, wie diese im Sagenschatz von Hesiod und Homer und in den Kulten fixiert war; die Vorsokratiker stießen von einer bewussten logischen Position, einem bestimmten nicht transzendenten, sondern immanenten Begriff in den Bereich möglichen Wissens vor. Daher nennt man diese Denker auch oft die ionischen Aufklärer in Entsprechung zu den französischen Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts.
Die von Athen begründete demokratische Verfassung der Stadtstaaten hat es im Verein mit dem griechischen Polyzentrismus mit sich gebracht, dass viele Menschen gegenüber dem Mythos skeptisch wurden und anfingen, selbständig zu denken. Der zeitliche Ursprung liegt hierbei im philosophischen Dreigestirn der nordgriechischen Stadt Milet: bei Thales, Anaximander und Anaximenes.
Originale Schriften dieser ersten logischen Philosophen sind nur in Bruchstücken erhalten. Doch wurden ihre Aussagen und Theorien von vielen späteren Denkern kommentiert oder bekämpft, sodass wir uns ein ganz gutes Bild machen können. Alle drei suchten anstelle eines Weltenschöpfers oder einer mythischen Kosmogonie nach einem Urprinzip, aus dem sich alle Erfahrungen logisch ableiten ließen. Thales fand diese Arché im Wasser, der etwas jüngere Anaximander in der Unendlichkeit, und schließlich Anaximenes in der Luft.