Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Die Vorsokratiker
Die Lehre des Thales, der von 624 bis 546 lebte, gründet auf dem Satz: Anfang und Urelement der Wirklichkeit ist das Wasser
. Im ersten Augenblick scheint diese Behauptung nichts anderes zu bedeuten als eine Neuformulierung der orphischen Kosmogonie, dass nämlich der Okeanos der Vater aller Dinge sei, und mit dieser Unterstellung griffen auch einige Zeitgenossen die thalessche Lehre an. Doch diese unterscheidet sich wesentlich vom Mythos: Thales führte zur Erhärtung seiner These nur jene Beweismittel an, die der damaligen Erfahrung als sichere Kriterien zugänglich waren, also vor allem mathematische und mechanische. Mit ihrer Hilfe wurde ein ganzes System des Kosmos entworfen, an dem sich die Nachfolger messen konnten.
Das logisch-philosophische Denken beginnt nicht mit der Wirklichkeit selbst, sondern mit einem Begriff, der diese vertritt, und von dem aus ihre Elemente in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sind. Für Thales war dieser Urbegriff das Wasser aus zwei Gründen:
- erstens ruhten die Landmassen gleich einem Schiff auf dem Wasser, wie dies das Meer als Umgebung des Landes, das Grundwasser und auch die Erdbeben bewiesen. Letztere glichen dem Schwanken eines Schiffes;
- zweitens entstehe das menschliche Leben selbst aus dem Samen, der in einem flüssigen Medium ruht.
Hiermit lassen sich sowohl die Natur als auch der Mensch — also beide Pole der Erfahrung — aus dem Wasserursprung begreifen. Die anderen Dinge entstünden aus dem Wasser, gleich wie dieses sich bei Kälte verfestigt und bei Wärme verdunstet.
Für die Philosophiegeschichte ist der systematische Ansatz des Thales wesentlich: die Beschränkung auf eine geringe Anzahl von an der Erfahrung nachprüfbarer Begriffen, nicht aber sein Gedankengebäude oder System. Dieses hat nur in Einzelheiten seinen Wert behalten, so in den thalesschen mathematischen Beweisen. Manche von diesen sind orientalischen oder ägyptischen Ursprungs; doch Thales hat sie originell verwendet, indem er sie zur Erhärtung seiner Thesen gebrauchte, was eine endgültige Absage an das mythische Denken bedeutet, das das Wahrheitskriterium nur in der Rückbindung an die Transzendenz oder ein Symbol anerkannte.
Dies zeigt sich besonders deutlich im bekannten Satz des Thales, dass alle Winkel im Halbkreis rechte Winkel sind: hiermit wurden die beiden Urprinzipien des mythischen Denkens, bei den Chinesen Yin und Yang, das Gerade und das Krumme, der rechte Winkel und der Kreis, in einen Zusammenhang gebracht.
Dass es einen solchen Ansatz überhaupt geben kann, dies entdeckt zu haben ist das unbestreitbare Verdienst des Thales. Doch der Ansatz selbst, nämlich das Wasser als Urprinzip der Wirklichkeit, kann bestritten werden. Sein Nachfolger Anaximander, 610 bis 546, wählte statt dessen einen negativen Begriff: das Apeiron, das Unendliche.
Das Unendliche ist ein rein denkerischer Begriff; keine sinnliche Erfahrung kann uns anderes als das Endliche erschließen. Doch denkerisch ist nicht zu bezweifeln, dass alles Endliche in etwas enthalten sein muss, das selbst unbegrenzt, nicht endlich ist; denken wir nur an den Raum oder die Zeit, oder an die Spontaneität, die Entstehung von immer neuen Dingen — niemals wird das Denken, die Vorstellung hierin an ein Ende kommen.
Auf der Basis des Prinzips, der Arché der Unendlichkeit, also einem Grenzbegriff, baute Anaximander das erste konsequent denkerische System der Geschichte auf; konsequenter als Thales, weil die Ableitung aller Dinge der mannigfaltigen Wirklichkeit aus dem Wasser als Urstoff nicht ohne vergewaltigende Vereinfachung möglich ist, während das Unendliche sie definitionsgemäß umfasst. Als Gegensatz des Endlichen wird es auch zum Urbild aller weiteren Gegensätze, die der Welt zugrundeliegen. Damit konnte die orphische und indische Kosmogonie des Entstehens und Vergehens der Wirklichkeit in den systematischen Ansatz einbegriffen werden.
Auch von der Lehre des Anaximander haben nur einzelne Beobachtungen und Theorien Gültigkeit behalten; solche, die wir heute als wissenschaftlich bezeichnen, da sie eine Hypothese über eine beobachtbare, im Experiment nachprüfbare und bei gleichen Bedingungen wiederholbare Erfahrung darstellen. Doch das Unendliche selbst ist nur ein theoretischer Grenzbegriff: ließe es sich erweisen, dass diesem Unendlichen eine Substanz, eine Wesenheit zugrundeliegt? Diese Denkweise führte den dritten milesischen Philosophen Anaximenes, etwa 580 bis 525, zu der Vorstellung, dass alles aus der Luft entstanden sei, in der alle Gegenstände gleichsam gebadet stehen, und die — wie es sich eindeutig im Wind erweise — durch Verdichtung die einzelnen Wesen erzeuge; heute würden wir sagen, dass der Gaszustand als ursprünglicher bezeichnet wird als der flüssige. Auch dieser Ansatz wurde mit Hilfe der damals bekannten wissenschaftlichen Methoden zu einem geschlossenen Weltbild ergänzt.
Gegenüber dem Unendlichkeitsbegriff des Anaximander scheint diese Vorstellung ein Rückschritt. Doch brachte sie eine wesentliche Ergänzung: mit Verdünnung und Verdichtung ließen sich alle qualitativen Unterschiede auf quantitative zurückführen. Diese These gab ferner eine Möglichkeit, auch das Leben im Atem als Urgrund des Bewusstseins zu verankern.
Mit Anaximenes war die Denkkraft der milesischen Schule erschöpft; bald darauf wurde auch die Stadt Milet von den Persern erobert und zerstört. Doch die Ansätze selbst beflügelten weitere Denker in fast jeder Generation bis auf unsere Tage. Heute z. B. sind die vitalistischen Biologen echte Nachfolger des Thales, wenn sie die anorganische Natur aus der lebendigen ableiten, der das wässrige Milieu zugrundeliegt. Ein Physiker wie Weizsäcker, der die Weltkörper aus Gasen entstehen lässt und die Erscheinungen quantitativ erklärt, folgt dem Ansatz des Anaximenes; und jeder erkenntniskritische Denker wie Kant und Cusanus, und jeder dialektische wie Fichte, Hegel und Marx hat die Begriffe von Unendlichkeit und Gegensatz zwischen Sein und Nichts als notwendige Voraussetzungen. Allen drei Philosophen aber entstammt eine Vorstellung, die uns seither selbstverständlich ist: nämlich dass der wirren Mannigfaltigkeit der Natur eine Elementarordnung zugrundeliegt, die das menschliche Denken begrifflich nachzuzeichnen vermag; die Vorstellung des Kosmos, der sich zur Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit, zum Chaos verhält wie der Logos, der Sinn, zur Mannigfaltigkeit des Mythos.