Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Pythagoras
Der größte Philosoph der vorsokratischen Epoche war Pythagoras. Seine genauen Geburtsdaten sind nicht bekannt; er lebte wahrscheinlich von 580 bis 500. Als Zeit seiner größten Wirksamkeit werden die Jahre um die sechzigste Olympiade, 540 bis 537 bezeichnet.
Die milesischen Naturphilosophen hatten die arithmetische und geometrische Berechnung als systematisches Mittel zur Zusammenfügung ihrer Gedankengebäude genommen. Pythagoras wählte einen neuen Standpunkt: wenn die Dinge sich nach mathematischen Gesichtspunkten verhalten, dann muss die Zahlenwelt selbst das Urprinzip der Erkenntnis und der Wirklichkeit bilden. So wurde er zum Begründer der Mathematik.
Die mathematischen Kenntnisse der Milesier waren geringfügig. Pythagoras unternahm ausgedehnte Reisen in den Orient, wo er sowohl mit der ägyptischen und babylonischen als auch mit der indischen Mathematik und über Mittelsmänner zweifellos mit der chinesischen musikalischen Harmonik vertraut wurde. Nach Eroberung seiner Heimat und weiter Teile Griechenlands durch Persien — er wurde auf der Insel Samos geboren — zog er nach Unteritalien und gründete in Kroton seine Schule oder besser seinen Bund: eine Lebensgemeinschaft, die die Philosophie nicht nur als theoretisches System, sondern auch als Verhaltenslehre aufzeigte.
Die Lehre des Pythagoras wurde geheim gehalten und bis 440 nur mündlich überliefert. Daher machte ihr Verständnis den europäischen Kommentatoren bis ins 20. Jahrhundert große Schwierigkeiten. Doch heute, wo uns die chinesische, indische und babylonische Denkungsart bekannt ist, und wo durch Thimus und Kayser die neuplatonische Philosophie, durch Gurdjieff die islamisch pythagoräische Tradition entschlüsselt wurde, können wir versuchen, den pythagoräischen Ansatz wieder nachzuvollziehen.
Der wesentliche Begriff des Anaximander war das Unendliche: ein Grenzbegriff, der sowohl Raum als auch Zeit umfasst und damit, als gleichsam negativer Begriff, einen Rahmen setzt, in dem alles gefunden werden muss. Dieser Grenzbegriff war für Anaximander ein Prinzip. Doch seine Gründe für das Prinzip überzeugten nicht, und so identifizierte sein Schüler Anaximenes das Unendliche mit der Luft, dem gasförmigen Zustand, und sah die Ordnung im quantitativen Gefüge der Wirklichkeit.
Die indische Philosophie kannte eine andere Art der Unendlichkeit: das unerschöpfliche Brahman, das als unendlicher Quell, als Potentialität die raumzeitliche Wirklichkeit gebiert. Die auf die Unendlichkeit von Raum und Zeit gerichtete Ausdehnung geht aus dem Unerschöpflichen hervor, das also der Wirklichkeit transzendent gegenübersteht, sie übersteigt. Wir erwähnten früher, dass den Griechen alles immanent blieb, sogar der Mythos, und die Transzendenz ihnen verborgen war. Hiermit erklärt sich die Geheimhaltung der neuen Lehre, der von Pythagoras geprägte Unterschied zwischen exoterischer und esoterischer Philosophie. Das Unerschöpfliche leuchtet als Urgrund dem unvorbereiteten Verstehen nicht ein; es verlangt zu seiner Erkenntnis eine Wandlung des Bewusstseins, welche Wandlung Pythagoras damit erzielen wollte, dass seine Schüler zu Beginn ihrer Lehrzeit wie in Indien fünf Jahre schweigend zuzuhören hatten, bevor sie vom äußeren exoterischen Kreis in die aktive Teilnahme am esoterischen Bund aufsteigen konnten.
Den Indern war es gelungen, das Verhältnis zwischen dem Unerschöpflichen und der endlichen Wirklichkeit auch denkerisch zu erfassen: mittels der Erfindung der mathematischen Null. Alle Ordnung beruht auf Zählen und Messen. Alles Zählen geht vom Begriff der Einheit aus; und Einheit ist jede Zahl in sich selbst. Doch Einheit ist nicht nur die Zahl, sondern auch der Schritt; und der gleiche Schritt, mit dem wir von der Eins in die Zwei und die Drei fortschreiten, führt uns auch zurück zur Null. Gegenüber der Einheit bedeutet Null das Nichts oder das Nochnicht. Aus dem Nichts entsteht das Etwas als die Ureinheit: so können wir im Denken die Geburt vom Nichts in die Wirklichkeit, die creatio ex nihilo erfassen.
Das Nichts ist das Nochnicht. Es muss potentiell in der Möglichkeit die Wirklichkeit enthalten. So steht die Null nicht nur für eine Grenze im Sinn des Anaximander, sondern für die Fülle der Potentialität, für die Urkraft. Wenn nun die Urkraft sich verwirklicht, dann muss sie mathematisch als erstes die Form der Einheit annehmen. Die Einheit gebiert die Zweiheit, die Zweiheit die Dreiheit, und die Dreiheit dann die weiteren Zahleneinheiten bis in die Unendlichkeit, wie es schon Lao Tse darstellte.
Pythagoras suchte nicht nach einer theoretischen Mathematik, sondern er erkannte die Zahlen als Erzeugungsprinzipien der Wirklichkeit. In philosophischer Terminologie vertrat er eine ontische und genetische Auffassung der Mathematik gegen die konventionalistische; und es ist kein Wunder, dass sein Denken nach kurzer Zeit die gleiche Entwicklung durchmachte, wie wir es im chinesischen mythischen Denken erlebten. Wahrscheinlich hat Pythagoras das chinesische Denken gekannt. Vor allem musikalisch bildete Asien damals in viel größerem Maße eine Einheit mit Europa als in den vorigen Jahrhunderten. Reisende brachten Nachrichten nicht nur von Babylon nach Indien, sondern auch von Indien nach China und wieder zurück nach dem Westen. Der umgekehrte Weg lässt sich später mit der Ausbreitung der griechischen Kunst verfolgen; selbst im östlichen China hat man griechische Inschriften gefunden. Wenn also jemand auf der Suche nach Wissen reiste, so musste er früher oder später mit allen damaligen Kenntnissen in Berührung kommen.
Zahlen weisen in die Unendlichkeit. Als Prinzipien der Wirklichkeit müssen sie sich aber als endliche Anzahl begreifen lassen. Hier nun kam Pythagoras zum gleichen Schluss wie die chinesischen Philosophen: nur die ersten zehn Zahlen sind als Erzeugungsprinzipien der Wirklichkeit zu betrachten, weil ihre Periode allein mit der Null in Beziehung steht, und weil ferner zehn die Summe der ersten vier Zahlen in dem Tetraktys, eins + zwei + drei + vier, darstellt, und weil schließlich sich die geometrische Ordnung der Dimensionen, die ebenfalls von Pythagoras entdeckt wurde — Punkt, Linie, Fläche, Körper und Bewegung — sich als Ausdruck des Tetraktys begreifen lässt. Das Dezimalsystem wäre also demnach die Grundlage sowohl des Erkennens als auch der Wirklichkeit, wobei, wie wir schon beim jüdischen mythischen Denken erwähnten, der Wert der anderen Systeme nicht in Frage gestellt wird: sie dienen nur anderen Zwecken.
Die Chinesen hatten jeder Zahl eine bestimmte Qualität zugesprochen, und diese Qualitäten als mythische und kultische Embleme in ihrer Kultur verankert, wobei sie vier Aspekte der Zahl verwendeten: ihren qualitativen als Bedeutung; ihren arithmetischen als Zahleinheit, als Klasse — was immer drei Teile oder Glieder hat, fällt unter das gleiche Prinzip der Drei; ihren geometrischen Aspekt als Form und Gestalt; und viertens ihren musikalischen Aspekt als Ton und Intervall.
In China bildete diese Vierheit die Grundlage des mythischen Denkens. Pythagoras vollzog aus drei Aspekten der Zahl den Schritt aus dem mythischen ins logische Denken: er entdeckte das System, das alle möglichen Beziehungen zwischen ihnen aufzeigt, und wurde damit zum Begründer sowohl der theoretischen Mathematik als auch der Harmonik. Nur für die qualitative Bedeutung der Zahlen gelang ihm der Übergang nicht; hier blieb er die Begründung schuldig, die erst unsere Gegenwart erstellen konnte, und dieser Mangel war eine der Ursachen, dass der pythagoräische Bund scheiterte.
Da nun die grundsätzlichen Entdeckungen des Pythagoras dem ganzen folgenden wissenschaftlichen, aber auch mystischen, theologischen, gnostischen und alchemistischen Denken zugrundeliegen, müssen wir ihren Zusammenhang bis in die Einzelheiten begreifen, bevor wir uns der weiteren Entwicklung der Philosophie in Griechenland zuwenden.