Schule des Rades
Arnold Keyserling
Geschichte der Denkstile
3. Das logische Denken
Pythagoras - Chi - Tongesetz
Pythagoras ist in der Mathematik vor allem durch den nach ihm benannten Lehrsatz bekannt: im rechtwinkligen Dreieck ist die Summe der beiden Kathetenquadrate gleich dem Hypothenusenquadrat
. Doch viel wesentlicher war eine andere Entdeckung: das Koordinatenkreuz mit den Brüchen und den Vielfachen; in der platonischen Tradition als das Chi
bekannt, und in der neupythagoräischen alexandrinischen als das Gamma
und das Lambdoma
, welch letzteres von Hans Kayser eingehend kommentiert wurde.
Das Koordinatenkreuz weicht vom kartesischen ab: es zeigt keine negativen Zahlen, sondern Multiplikation und Division im Verhältnis zu den zehn Zahlen:
Die ganze Figur heißt Chi, weil sie senkrecht gestellt dem gleichnamigen griechischen Buchstaben ähnelt; von ihrer umfassenden Bedeutung handelt der platonische Dialog Timaios. Das untere Feld heißt Lambdoma wegen seiner Ähnlichkeit mit dem griechischen Buchstaben Lambda Λ; seine Konstruktion wird in den Schriften des alexandrinischen Philosophen Jamblichos geschildert. Das obere heißt Gamma und wurde von Nikomachos von Gerasa beschrieben.
Wie gelangte Pythagoras zu dieser Figur? Eine Legende des Jamblichos gibt uns darüber Auskunft: eines Tages ging Pythagoras an einer Schmiede vorbei und hörte, dass die Hämmer beim Aufschlag verschiedene Töne erklingen ließen. Er stellte bei weiterer Nachprüfung fest, dass die Tonhöhe von geometrischen Massen und von Gewichten abhängig ist, dass also das Ohr unmittelbar quantitative Beziehungen wahrnehmen kann. So kam er zur Erkenntnis der Gesetze der Tonzahlen, aus denen er dann die Mathematik entwickelte.
Die Welt der Töne weist eine begrenzte Anzahl von Verhältnissen zueinander auf: die Intervalle der Oktave, Quinte, Quarte, Großen Terz, Kleinen Terz und Großen Sekund.
Ein Ton aber ist nicht eine Zahl, sonder stellt mit seinen Obertönen — die seine Klangfarbe bestimmen — eine Zahlenreihe dar. Diese entsteht durch die Schwingung eines regelmäßigen Körpers wie einer Saite; zusätzlich zur ersten Schwingung 1 entstehen in der Folge Sekundärschwingungen, die die Saite geometrisch in immer kleinere Abstände gliedern.
Die ganze Saite schwingt der Breite nach. Die sekundären Schwingungen, später Obertöne genannt, schwingen den Enden zu und kehren zurück, wobei die Bäuche erklingen: die ganze Saite einmal, die halbe Saite erklingt zweimal, die Drittel der Saite dreimal, die Viertel viermal und so fort. Hieraus folgt — auch ohne Kenntnis der Schwingungsgesetze, die sich wahrscheinlich zu seiner Zeit noch nicht beobachten ließen — dass Maß und Schwingung in reziprokem Verhältnis stehen, wobei die Schwingungen folgenden Tonwerten entsprechen:
Maß
Tonwert
Schwingung 1/1
c
1/1 1/2
c
2/1 2/3
g
3/2 3/4
c
4/3 4/5
e
5/4 5/6
g
6/5 6/7
X
7/6 7/8
c
8/7 8/9
d
9/8 9/10
e
10/9
Zwischen den Tonwerten entstehen die Intervalle. Werden sie als Schritte verstanden, so kommt jeder nach einer anderen Anzahl zum Ausgangspunkt zurück, so dass das System der Intervalle endlich ist:
die Kleine Terz nach vier Schritten innerhalb einer Oktave,
die Große Terz nach drei Schritten innerhalb einer Oktave,
die Große Sekund nach sechs Schritten innerhalb einer Oktave,
die Quarte nach zwölf Schritten innerhalb fünf Oktaven,
die Quinte nach zwölf Schritten innerhalb sieben Oktaven.
Quinte und Quarte erzeugen hierbei zwölf Tonwerte, die sich im Quinten-Quartenzirkel veranschaulichen lassen:
Hier ergibt sich ein Problem: die Quinte kehrt nicht genau zur siebten Oktave des Ausgangstons zurück, sondern erreicht einen etwas höheren Tonwert. Nun hat aber die Resonanz — die Fähigkeit von Tonerzeugern, andere zum Mitschwingen zu bringen, worauf auch der Vorgang des Hörens beruht — eine gewisse Toleranz. Nur die Oktave verlangt den Gleichklang; die anderen Intervalle stimmen für das Gehör im Rahmen einer gewissen Abweichungsbreite. Dies gilt bereits für die Obertöne: die Verhältnisse 8/9 Maß, 9/8 Schwingung, und 9/10 Maß, 10/9 Schwingung werden beide als Ganztonschritt, als Große Sekund vernommen. Damit ist für das Ohr die arithmetische Begrenzung der Intervalle auf zehn Schritte (Tetraktys) gegeben, und es ergibt sich die Notwendigkeit, den Mittelwert der Intervalle zu finden: die geometrische Mitte, die seit dem 16. Jahrhundert für unsere Tasteninstrumente eingeführt wurde und den Namen temperierte Stimmung erhielt. Ihr Parameter, die irrationale Zahl , wurde von Pythagoras entdeckt. Eine Legende berichtet: jener Schüler, der ihre Existenz Uneingeweihten mitteilte, sei von den Göttern ertränkt worden, weil er den Schleier vom Geheimnis des Lebens gelüftet habe.
Nur ein Intervall fällt aus dem Rahmen: jener des siebten Obertones 6/7 Maß 7/6 Schwingung, der die Oktave in fünf gleiche Teile gliedert, temperiert . Er hat (als Pentagramm oder im später erklärten Enneagramm) eine Sonderrolle in der esoterischen Tradition, und bildete die Grundlage der japanischen Meditationsflöte. Pythagoras schuf an seiner Stelle die siebenstufige Tonleiter in Aneinanderreihung der Quintenschritte: c d e f / g a h c.
Im temperierten Quintenzirkel ergeben sich als weitere Intervalle der Triton im Verhältnis und der Halbtonschritt, die Kleine Sekund, wobei aber die Naturtonwerte und die temperierten in Schwebung zusammenwirken. Hiermit hatte Pythagoras die musikalische Struktur des Tierkreises als der ältesten Überlieferung der Menschheit, als Sphärenharmonie rational bestimmt, und damit war der Weg zur Entdeckung des Systems der Mathematik eröffnet.
Wenn wir heute in der Philosophie eine Begründung der Mathematik suchen, werden uns vier Hypothesen angeboten:
- Die Mathematik sei eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes.
- Sie sei eine Konvention.
- Sie bestimme die Welt der platonischen Ideen, die der Wirklichkeit zugrundeliegen und der Intuition zugänglich sind.
- Sie sei aus der Fähigkeit des Zählens über den Gebrauch der zehn Finger entstanden.
Diese Hypothesen sind unbefriedigend und historisch falsch. Niemand zweifelte im Altertum daran, dass Pythagoras der Erfinder der Mathematik war; wenn auch die Inder und Chinesen die verschiedenen Rechnungsarten früher entdeckt hatten, so war es ihnen fern gelegen, sie zu systematisieren. Dies tat Pythagoras wahrscheinlich auf folgende Weise, wobei wir jetzt den Tetraktys rückwärts gehen:
- Die raumzeitliche Wirklichkeit beruht auf der Beziehung (der Wirkung) der Körper zueinander, die sich im Rahmen der Intervalle begreifen lässt, deren makrokosmischen Ausdruck der Tierkreis mit der Harmonie der Sphären bildet.
- Jeder Ton bedeutet eine Wechselbeziehung von Maß und Schwingung und enthält als physikalische Gegebenheit die Reihe der Obertöne.
- Wenn wir aber eine Saite in Teile gliedern, so verlangt ihr Verständnis die Rechnungsarten Multiplikation und Division. Somit kommen wir zum System der rationalen Zahlen, des Einmaleins und der Brüche, das das früher dargestellte Chi ausmacht.
- Multiplikation und Division sind letztlich Ergebnisse von Addition und Subtraktion. So ergibt sich als nächster Schritt die Welt der ganzen Zahlen, positiv und negativ:10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
- alle Zahlen haben ihren Grund in der Fähigkeit des Zählens, woraus die natürlichen Zahlen entstehen.
Dieser Aufbau ist seit Pythagoras beibehalten worden: auch die heutige Mathematik unterscheidet (0) natürliche, (1) ganze, (2) rationale, (3) reelle, und (4) komplexe oder imaginäre Zahlen, von welch letzteren die Intervalle einen Ausdruck bilden; ein anderer ist die einsteinsche Bestimmung der raumzeitlichen Wirklichkeit, über die wir am Ende des Buches sprechen werden. Doch in der heutigen Mathematik stehen diese Begriffe nebeneinander, ohne Beziehung auf das Bewusstsein.